Ein Rückblick auf die Jahre seit 2017 Entwicklungen auf dem Gebiet von Diabetestechnologie und Digitalisierung

Autor: Dr. Andreas Thomas

Die Diabetestechnologie weist seit Erscheinen des diatec-journals eine hohe Innovationsrate auf. Die Diabetestechnologie weist seit Erscheinen des diatec-journals eine hohe Innovationsrate auf. © everythingpossible - stock.adobe.com

Seit 2017 hat sich die Diabetestechnologie rasant entwickelt: Von innovativen AID-Systemen über Smart-Pens bis hin zu CGM und Künstlicher Intelligenz – Fortschritte, die Therapie und Lebensqualität verbessern. Doch bei der Digitalisierung hinkt Deutschland weiter hinterher.

Dass wir uns in einer schnelllebigen Zeit befinden, lässt sich unter anderem an der Entwicklung verschiedener technischer Produkte nachvollziehen. Man denke beispielsweise an das mobile Telefonieren. In den 1990iger-Jahren wurden erste, noch recht große, ortsunabhängige Telefone allgemein verfügbar. 1994 kam das erste Smartphone von IBM auf den Markt mit Touchscreen und Kalenderfunktion, aber einem Gewicht von ca. 1 kg. Kann man heute noch nachvollziehen, dass es 2007 das erste iPhone von Apple gab? Die smarten Telefone von heute sind eigentlich Mini-Computer in der Hosentasche, mit denen sich unter anderem telefonieren lässt, darüber hinaus ausgestattet mit Internetzugang, hochauflösenden Kameras und einer unüberschaubaren Anzahl von Apps, die uns begleiten und Datenzugang in nahezu jeder Situation bieten. Viele Besorgungen des Alltags bedürfen bereits dieser Technik.

Die Entwicklung der Diabetestechnologie verlief nun zwar nicht so atemberaubend wie die Entwicklung der Smartphones, die kleinen Geräte beeinflussen aber zunehmend auch die Diabetestechnologie. Die damit im Zusammenhang stehende Digitalisierung ist eine Säule davon, auch wenn sie außerhalb von Deutschland eine höhere Geschwindigkeit aufweist. Der Fortschritt in Digitalisierung und Diabetestechnologie, den beiden hauptsächlichen Themen unseres diatec journals, lässt sich auch nachvollziehen über den Zeitraum, in dem dieses herausgegeben wurde, nämlich ab 2017.

AID-Systeme

AID-Systeme sind die spektakulärste Entwicklung der Diabetestechnologie der letzten Jahre (AID – automatic insulin delivery). Diese Wahrnehmung verstärkt sich angesichts der Tatsache, dass Menschen mit Typ-1-Diabetes lange davon geträumt hatten. Im Jahr 2017 gab es in Deutschland noch keine solchen Geräten, zumindest nicht kommerziell. Zu diesem Zeitpunkt war die höchstmögliche verfügbare Form der Insulintherapie die sensorunterstützte Pumpentherapie (SuP) mit präventiver Hypoglykämieabschaltung durch das System MiniMed 640G. Damit konnten Hypoglykämien weitgehend verhindert werden, weil der Glukosesensor eines CGM-Systems nicht nur an die Insulinpumpe angeschlossen wurde (das war bereits 2006 mit dem System Paradigm Real-Time erfolgt), sondern bei Gefahr einer Hypoglykämie auch präventiv die Insulinabgabe unterband. Dies war gewissermaßen eine Vorstufe zu einem AID-System. Zu diesem Zeitpunkt war in den USA allerdings bereits das Hy­brid-AID-System MiniMed 670G verfügbar, welches in Deutschland erst 2019 zugelassen wurde. Unabhängig davon gab es 2017 aber schon ca. 1.500 Menschen mit Typ-1-Diabetes, welche ihre Insulintherapie mit selbstgebauten AID-Systemen durchführten, die sogenannten „Looper“. Das Für und Wider dieser „Selbstheilversuche“ wurde in jeder Zeit häufig diskutiert. Mit der Zulassung des ersten AID-Systems trat diese Form des Therapiemanagements in den Hintergrund. Die „Looper“-Community hat aber durchaus einen Beitrag für die AID-Systeme geleistet. Dabei sind weniger Beiträge zur Applikation von Algorithmen zur automatisierten Insulinabgabe gemeint, sondern der Beleg, wie Menschen mit profunder Kenntnis der Glukosestoffwechselregulation normoglykämische Glukosewerte unter Alltagsbedingungen erreichen können, ohne dass wesentliche Hypoglykämien auftreten.

Mittlerweile stehen den Patienten mit der Medtronic MiniMed 780G, Tandem t:slim X2 CONTROL IQ, Ypsomed mylife CamAPS, Insulet OmniPod 5, Kaleido mit DBGL1 fünf AID-Systeme zur Verfügung. Im Gegensatz zum Hybrid-AID, bei welchem nur die basale Insulinabgabe automatisch läuft, Korrekturboli und Mahlzeitenboli jedoch manuell eingegeben werden müssen, sind vier dieser Systeme Advanced Hybrid-AID (AH-AID). Bei diesen erfolgt auch die Korrektur erhöhter Glukosewerte automatisch. Auch kommen verschiedene Konfigurationen zum Einsatz. So lassen sich verschiedene Glukosesensoren an die Insulinpumpen anbinden, so Dexcom G6, Dexcom G7 und FreeStyle Libre 3. Nur im Fall der MiniMed 780G kommen auch die Glukosesensoren vom gleichen Hersteller. Die Entwicklung geht hier in Richtung Interoperabilität, also künftig der Zusammenstellung der drei Komponenten Insulinpumpe, Algorithmus und CGM als Baukastensystem. Über eine App wird der Algorithmus geladen und die beiden Komponenten damit verbunden.

Smart-Pens

Die Anzahl der Menschen mit Typ-1-Diabetes, die ein AID-System nutzen hat sich in den letzten Jahren stark erhöht und dürfte mehr als 50% der Insulinpumpennutzer (aktuell sind das in Deutschland 120.000 – 130.000) betreffen. Eine andere Entwicklung der Insulinabgabe, die 2017 noch nicht vorhanden war, betrifft Smart-Pens. Diese Entwicklung wird durch die Möglichkeiten der Digitalisierung ermöglicht: Die Daten über die Insulinabgabe können bei Bedarf in eine App übertragen werden. Wünschenswert ist die Integration der Glukosewerten in die App. Bei Auswertung der gespeicherten Daten werden so die Korrelationen zwischen Insulinabgabe und der sich ergebenden Glykämie sichtbar. Beispiele dafür sind der NovoPen Echo Plus und der NovoPen 6 der Firma Novo Nordisk. Auch die Einbindung von CGM-Daten lassen sich realisieren, z.B. beim InPen von Medtronic. Die Software zur Datenauswertung hilf den Patienten bei einem verbesserten und vor allem datenbasierten Therapiemanagement. Weitere Beispiele sind Penkappen, welche auf Einweg-Injektor-Pens aufgeschoben werden und wie die Smart-Pens Daten erfassen und an eine App weiterleiten.

CGM-Systeme

Das kontinuierliche Glukosemonitoring (CGM) kann als eine der größten Innovationen der letzten 25 Jahre angesehen werden. CGM-Systeme waren 2016 nach einem acht Jahre langen Bemühen über den G-BA-Beschluss in die Regelversorgung von Menschen mit Diabetes übernommen worden. Neben einer Vielzahl von evidenzbasierten Studien verbesserte sich die Messgenauigkeit der Systeme derart, dass sie eine mittlere relative Messwertabweichung (die sogenannte MARD) von einem Laborgerät unter 10% erreichten. Dieser Wert gilt als eine Schwelle, unterhalb welcher die Substitution der Blutzuckermessung möglich ist. Neben dieser Möglichkeit ergibt sich mit CGM die Unterstützung der Therapie, sowohl der Spritzentherapie (sensorunterstützte Therapie, SuT) als auch der Pumpentherapie (SuP). CGM ist integraler Bestandteil der Steuerung der Insulinabgabe beim AID, ermöglicht aber auch die Kombination mit verschiedenen anderen Geräten, wie Smart-Pens. Weiterhin ist das CGM ein Instrument zur Digitalisierung. Datenmanagementsysteme bis hin zu Patient Decision Support Systems (PDSS) werden CGM-Daten als wesentliche Grundlage benötigen. Schließlich haben die CGM-Daten zu einer neuen Sicht auf den Glukosestoffwechsel und dessen Beurteilung geführt. Parameter, wie die Time in Range, Time below Range, Time above Range, Glukose-Management-Indikator u.a., basieren darauf. Grundsätzlich ermöglicht das CGM ein „Biofeedback“. Die Anwender können unmittelbar beobachten, wie sich Ernährung, körperliche Aktivität, Stress u.a. auf ihren Stoffwechsel auswirken, und daraus Schlussfolgerungen für das Verhalten ableiten. Das macht CGM zu einem Instrument für die Lebensstilintervention.

Digitalisierung

Leider muss festgestellt werden, dass die Fortschritte bei der Digitalisierung in Deutschland seit 2017 nur marginal sind. Zwar gibt es im Verzeichnis für die digitalen Gesundheitsanwendungen (DiGA) in Deutschland immerhin 55 gelistete DiGAs, davon 35 zur dauerhaften und 20 zur vorläufigen Aufnahme. 8 DiGAs betreffen Stoffwechsel und Adipositas. Aber die DiGAs werden von den Ärzten nur wenig verschrieben und wenn sie der Patient einmal bekommen hat, werden sie häufig nur geringfügig und kurzzeitig genutzt. Obwohl es mittlerweile viele Probleme in der ärztlichen Versorgung – vor allem auf dem Land – gibt, werden die das Problem etwas entschärfenden digitalen Möglichkeiten nur wenig genutzt. Eine weitere Verringerung der Arztdichte bei steigenden Patientenzahlen wird sicher zu einer verstärkten Hinwendung zur Digitalisierung führen. Aktuell ist das noch nicht der Fall und es lassen sich keine grundsätzlich anderen Schlussfolgerungen ziehen als 2017.

Diskutiert wurde im Jahr 2017 auch über Telemedizin und die Möglichkeiten der Fernbehandlung von Patienten. Die Jahre der Corona-Krise gaben dieser Methode eine umfassende Chance, die in jener Zeit genutzt wurde. Allerdings wurde bald danach, also ab 2022 in der Breite wieder zu den herkömmlichen Methoden der Arzt-Patienten-Kommunikation übergegangen. Dabei liegen die Vorteile der Telemedizin auf der Hand. Die Patienten haben keine Aufwendungen bezüglich des Arztbesuches, der in ländlichen Gegenden sehr hoch sein kann bzgl. Zeit, Reisekosten usw. Eine telemedizinische Besprechung kann einen häufigeren Kontakt zum Diabetesteam bedeuten, als sich dies im vierteljährigen Arztbesuchszyklus ergibt. Ein digitales Coaching schließt dies als effektive Möglichkeit ein. Auch für das Diabetesteam sind die Fortschritte in der Therapie schnell und in kürzeren Zeitabständen zu erfassen. In einigen Fällen haben die positiven Erfahrungen der Telemedizin im Alltag auch Fuß gefasst. Beispielsweise entstanden Praxen unter der Bezeichnung „SmartCare“. Über Telemedizin werden der Arzt und medizinische Fachkräfte in das wohnortnahe und häusliche Umfeld der Patienten gebracht, insbesondere in Regionen, in denen aktuell kein ambulanter Arzt mehr verfügbar ist. Auch für Pflegeheime ist ein solches Konzept relevant. Das zugrunde liegende Prinzip ist, dass hausärztliche Grundversorgung und fachärztliche Betreuung mit moderner Diagnostik zusammengehen und mittels Telemedizin jederzeit abgestimmt werden können. Dabei entsteht auch eine zeitliche Variabilität. Die Hinzuschaltung der Fachärzte kann den teilweise bestehenden Mangel an Besuchsterminen bei diesen Experten kompensieren. Ohne lange Wege gehen zu müssen, können die Patienten von den Fachärzten Rezepte ausgestellt bekommen oder im Notfall auch in eine medizinische Einrichtung vor Ort überwiesen werden. Davon profitieren die Patienten, egal wo sie sich befinden: am Wohnort, in einer Pflegeeinrichtung oder im Auslandsurlaub. Solche Konzepte gehören zu den aktuellen Fortschritten und müssten eine breitere Anwendung erfahren. Das setzt die adäquate Honorierung voraus.

Künstliche Intelligenz (KI)

Obwohl die Begrifflichkeit und erste Ansätze zur KI bereits in den 1950er-Jahren diskutiert wurden, in der Diabetologie spielte dies 2017 keine wesentliche Rolle. Wirklich große Fortschritte bezüglich der Anwendung in der täglichen diabetologischen Praxis sind damit in Deutschland bisher nicht zu registrieren. Dabei wären die Anwendungsfelder umfangreich. Große Datenmengen zum Beispiel aus den DMPs sind nicht in der Öffentlichkeit diskutiert worden, von der KoDiM-Studie (Kosten des Diabetes mellitus) der AOK Hessen/KV Hessen mit 350.000 Versicherten aus dem Jahr 2005 mal abgesehen. Solche Datenmengen zu analysieren, nach verschiedenen Kriterien aufzubereiten und Schlussfolgerungen zum Beispiel zum zukünftig zu erwartenden Gesundheitsstatus der Diabetespopulation zu ziehen, wäre eine schwierige, aber mit KI zu bewältigende Aufgabe. Auch die Analyse von CGM-Glukoseprofilen, die Ableitung von therapeutischen Schritten und die Mitteilung an die Patienten wäre eine solche Anwendung im Sinne von PDSS. In Deutschland sind nicht viele Anwendungen vorhanden, wie z.B. der ADVISOR der Firma DreaMed Diabetes, welcher KI einsetzt, um Patientendaten in Behandlungsempfehlungen auf Expertenebene, also in einem CDSS, umzusetzen. Zugelassen ist dieses System in Israel und den USA. Für Deutschland sei genannt die Ableitung einer gezielteren, individualisierten Diabetesprävention und -therapie mittels KI aus BigData vom Deutschen Zentrum für Diabetesforschung, das EyeArt KI-Augenscreening-System der Firma EYENUK, welches KI zur Erkennung der diabetischer Retinopathie einsetzt, weiter das CGM-System Accu-Chek SmartGuide von Roche, wo aus den vorhandene CGM-Daten vorausschauend Vorhersagen auf die zu erwartenden Glukosewerte in den nächsten Stunden gemacht werden, und die DiGA glucura, welche CGM-Daten nutzt, um daraus die Glukosewerte nach Nahrungsaufnahme vorauszuberechnen, auch wenn kein CGM mehr getragen wird. 
KI bietet auch Risiken. Laut einer Studie der Oxford University könnte sich eine fortgeschrittene KI verselbstständigen und sich gegen die Menschen wenden. Daraus empfiehlt sich eine Regulierung der KI. Der regulatorischen Rahmen für die Nutzung von KI ist in dem AI ACT der Europäischen Union festgelegt.

Ausblick

Die Diabetestechnologie weist auch in dem relativ kurzen Zeitraum seit der ersten Ausgabe des diatec journals 2017 eine hohe Innovationsrate auf. AID-Systeme sind auf dem Weg vom AH-AID zum Voll-AID. Sie sorgen dafür, dass nicht nur die Diabeteseinstellung von insulinbehandelten Menschen mit Diabetes besser ist als je zuvor, sie sorgen auch für eine deutliche Senkung von diabetesbedingten Aufwendungen und damit zur Erhöhung der Lebensqualität. Auch CGM, Smart-Pens, die Verbindung mit moderner Auswertesoftware mittels Apps auf Smartphones ändern das Therapiemanagement und tragen dazu bei bei Meschen, welche keine Insulinpumpenbehandlung durchführen. Inwieweit die nicht-invasive Glukosemessung einmal das Leben der Betroffenen erleichtern wird, lässt sich aktuell nicht sagen. Nach wie vor gibt es keine unblutige Glukosemessung, die den Anforderungen an die Messgenauigkeit bei der Diabetesbehandlung gerecht wird. Zwar haben einige Systeme sogar ein CE-Zertifikat, sie haben aber bisher ihre Alltagstauglichkeit nicht belegen können.

Bezüglich der Digitalisierung lässt sich leider keine positive Bilanz über die letzten 8 Jahre ziehen. Die Möglichkeiten der Digitalisierung werden nicht annäherungsweise ausgeschöpft, obwohl man unter der Leitung des damaligen Bundesgesundheitsministers Spahn einen zunächst vernünftig scheinenden Prozess zur DiGA-Zulassung über das BfArM entwickelt hatte. Die Gründe sind vielfältig, wie z.B. die bisherige Orientierung der DiGAs an der Risikoklasse IIa nach MDR (Medical Device Regulation) und der Forderung, dass DiGAs den Arzt bei der Behandlung ausschließen, praktisch nur der Selbstbehandlung dienen. Auch wenn dies geändert werden soll bzw. wird, es ist eine Limitierung. Bürokratie, Datenschutz u.a.m. vervollständigen die Limitierungen. Wenn diese Prozesse nicht anders gestaltet werden, wird das Problem des Fachärztemangels kaum zu beheben sein. Auch würde das moderne Entwicklungen der Diabetestechnologie begrenzen. Kein PDSS, nicht einmal einen Bolusvorschlagsrechner lässt der aktuelle Rahmen zu. Dabei sind die AID-Systeme glücklicherweise weit außerhalb dieses Rahmens. Diese Entwicklung ließ sich nicht bremsen. Daraus resultiert der Optimismus, dass Diabetestechnologie und Digitalisierung zunehmend weiter das  Diabetesmanagement von Menschen mit Diabetes verbessern werden.

Dr. Andreas Thomas, Physiker und freiberuflicher Berater, Pirna Dr. Andreas Thomas, Physiker und freiberuflicher Berater, Pirna © zVg