Zöliakie Familien Zeit geben, die Manifestation des Typ-1-Diabetes zu verarbeiten
Was gab den Anstoß für Ihre Untersuchung zum Zeitpunkt der histologischen Diagnostik der Zöliakie?
PD Dr. Clemens Kamrath: Wenn bei einem Kind ein Typ-1-Diabetes festgestellt wird, werden häufig auch die anti-tTGA bestimmt. Bei einem hohen Titer sehen die Leitlinien vor, dass möglichst rasch eine Biopsie vorgenommen wird, um den Laborbefund abzusichern. Für das Krankenhaus ist so eine frühzeitige Abklärung praktisch: Das Kind ist nach der Diabetes-Manifestation ohnehin auf Station, da kann man die Biopsie gleich mit erledigen. Doch mein subjektiver Eindruck war immer, dass es für die Kinder und ihre Familien oft sehr belastend war, gleich zwei einschneidende Diagnosen auf einmal zu erhalten.
Studiendesign und Ergebnisse
Dr. Clemens Kamrath und sein Team nutzten für ihre Studie Daten des DPV-Registers, das an der Universität Ulm, Institut für Epidemiologie, ZIBMT, verwaltet wird. Einbezogen wurden Kinder und Jugendliche unter 18 Jahren, die zwischen 1995 und 2021 die Diagnose Typ-1-Diabetes erhalten hatten (n = 92.278) und bei denen parallel die Antikörper gegen Gewebstransglutaminase (anti-tTGA) bestimmt wurden (n = 26.953, 29,2 %). Bei 2.340 (8,7 %) von ihnen wurden erhöhte anti-tTGA-Titer gemessen.
Von diesen wiederum wurde bei 533 (22,8 %) eine Biopsie zur histologischen Bestätigung der Zöliakie-Diagnose durchgeführt, die sich in 444 Fällen bestätigte. Bei der Mehrheit (n = 264, 64,2 %) wurde die Biopsie binnen 6 Monaten nach der Diabetesdiagnose durchgeführt, bei den übrigen Kindern (n = 147, 35,8 %) vergingen bis zu 36 Monate bis zur Biopsie. Es ergaben sich keine statistisch signifikanten Unterschiede zwischen den beiden Gruppen in Bezug auf HbA1c-Werte, kardiovaskuläre Risikomarker, akute Diabeteskomplikationen, Längenwachstum und Gewichtszunahme. Die Studienautor*innen folgern daraus, dass die histologische Bestätigung einer Zöliakie-Diagnose bei asymptomatischen Kindern und Jugendlichen mit neu manifestiertem Typ-1-Diabetes hinausgezögert werden kann, wenn die individuelle Situation dies ratsam erscheinen lässt.
Kamrath C et al. Diabetologia 2022; 65: 1108-1118; doi: 10.1007/s00125-022-05701-w
Wie genau äußert sich diese Belastung?
Dr. Kamrath: Die Kinder werden ja teils sogar mit einer Ketoazidose auf die Intensivstation eingeliefert. Die Diagnose des Diabetes ist für sie und ihre Eltern ein großer Schock. Sie müssen während des Krankenhausaufenthalts lernen, Kohlenhydrate zu berechnen, Insulin zu dosieren und den Diabetes in ihren Alltag zu integrieren. Dazu kommen – insbesondere bei jüngeren Kindern – auch viele organisatorische Herausforderungen, wenn es um die Betreuung in der Kita oder in der Schule geht, wenn eine Teilhabeassistenz beantragt werden muss etc. Kommt in einer solchen Situation noch eine zweite einschneidende Diagnose wie Zöliakie dazu, ist das wirklich sehr viel, was die Familien plötzlich verarbeiten müssen.
Warum empfehlen die Leitlinien denn eine frühzeitige Biopsie bei hohem anti-tTGA-Titer?
Dr. Kamrath: Eine Zöliakie kann unbehandelt zu Resorptionsstörungen und Mangelerscheinungen bei einer ganzen Reihe von Mikronährstoffen wie Eisen oder Zink führen. Dies kann sich negativ auf die kindliche Entwicklung auswirken, vor allem bei Längenwachstum und Gewichtszunahme. Allerdings gab es bislang keine Daten dazu, ob eine frühzeitige Abklärung bei asymptomatischen Kindern mit Vorteilen für die Prognose einhergeht. Ein systematisches Screening ist aber nur dann sinnvoll, wenn die frühe Diagnose die weitere Entwicklung auch tatsächlich positiv beeinflusst.
Und einen solchen positiven Effekt hat eine frühzeitige Biopsie also offenbar nicht?
Dr. Kamrath: Genau. Sofern die Kinder zum Zeitpunkt der Diabetes-Diagnose keine Symptome einer Zöliakie aufwiesen, profitierten sie nicht von einer sofortigen Umstellung auf glutenfreie Ernährung. Es ergab sich aber auch kein Vorteil durch den Aufschub der histologischen Abklärung und den entsprechenden Start der glutenfreien Ernährung. Die entscheidende Erkenntnis für mich ist daher, dass der Abklärungszeitpunkt und Diätbeginn bezüglich einer Zöliakie bei asymptomatischen Kindern mit Typ-1-Diabetes individualisiert werden sollte.
Welche praktischen Ratschläge ergeben sich daraus für Kinder-Diabetesambulanzen?
Dr. Kamrath: Es gibt dank unserer Studie nun neben den geltenden Leitlinien auch evidenzbasierte Daten, die es den Behandlungsteams ermöglichen, individueller zu entscheiden und die Lebenssituation der Kinder und Familien stärker zu berücksichtigen. Die Umstellung auf eine glutenfreie Ernährung bedeutet ja, dass man in der Essensauswahl zum Teil erheblich eingeschränkt ist, vor allem bei Restaurantbesuchen oder beim Bestellen von Essen über Lieferservices.
Mit einer solchen zusätzlichen Herausforderung sind viele Familien in der kritischen Phase der Diabetes-Manifestation ganz einfach überfordert. Es ist gut, dass wir ihnen nun raten können, sich erst einmal weiter ganz normal zu ernähren und sich in Ruhe an den Diabetes ihrer Kinder zu gewöhnen, bis sie ihn in ihren Alltag integriert haben. Nach einem Jahr kann man sich dann um den Nachweis der Zöliakie und die Ernährungsumstellung kümmern. Dabei ist natürlich wichtig, dass sich die Patienten bis zur definitiven Diagnostik weiterhin glutenhaltig ernähren, um die histologische Untersuchung nicht zu verfälschen.
Bei welchen Patient*innen sollte man auf keinen Fall mit der Zöliakie-Abklärung warten?
Dr. Kamrath: Unsere Empfehlung betrifft ausschließlich asymptomatische Kinder und Jugendliche. Wenn das Kind Symptome zeigt, also nach glutenhaltigen Mahlzeiten Bauchschmerzen hat, oder wenn bereits eine Resorptionsstörung oder eine Mangelversorgung, z. B. eine Anämie, nachgewiesen wurde, dann sollte man die Abklärung nicht hinauszögern.
Typ-1-Diabetes mit Verdacht auf Zöliakie – kein Nachteil!
Kommentar Prof. Dr. Reinhard Holl und PD Dr. Stefanie Lanzinger, Ulm
Die pädiatrische Diabetologie ist aktuell ganz wesentlich durch die Einführung von Diabetestechnologie in den Behandlungsalltag geprägt. Diese spannende Entwicklung beinhaltet ein großes Potenzial für die Zukunft – andere wichtige Aspekte der Versorgung rücken aber zum Teil etwas in den Hintergrund.
Um so mehr ist die Studie von Kamrath et al. zu begrüßen, die sich mit der Zöliakie als Begleiterkrankung des Typ-1-Diabetes beschäftigt. Aufgrund der genetischen Assoziation (DR3/DQ2 bzw DR4/DQ8) ist die Zöliakie bei Menschen mit Typ-1-Diabetes etwa zehnfach häufiger: In der Allgemeinbevölkerung haben circa 0,5 % eine manifeste oder asymptomatische Zöliakie, beim Typ-1-Diabetes sind es circa 5 %.
Zwar empfehlen Leitlinien ein generelles Screening mit Bestimmung der Transglutaminase-AK, das Vorgehen bei auffälligen Befunden (Laborkontrolle? Biopsie?) ist aber insbesondere bei Patient*innen ohne Zöliakie-Symptome kontrovers. Deshalb ist die Studie von PD Dr. Clemens Kamrath überaus hilfreich, die klar belegt, dass neu manifestierte Patient*innen mit Typ-1-Diabetes und allein laborchemischem V. a. Zöliakie keinen Nachteil haben, wenn die bioptische Klärung dieser Begleitdiagnose um einige Monate verschoben wird.