Für den Nutzen von Tinnitustherapien fehlen eindeutige Beweise
Wann genau das Piepsen in beiden Ohren begann, daran konnte sich der 55-Jährige nicht erinnern. Es war jedenfalls ein paar Monate her und der hohe, anhaltende Ton störte ihn deutlich. Wie mit diesem Patienten umgehen, fragte sich Professor Dr. Carol A. Bauer von der Division of Otolaryngology der Southern Illinois University School of Medicine in Springfield.
Derartige Probleme werden Kollegen vertraut vorkommen. 10–25 % der Erwachsenen hören laut Studien dauerhaft Ohrgeräusche, je älter, desto höher die Prävalenz. Nur 1–7 % der Patienten bereitet es schwerwiegende Probleme. Bei ihnen treten dann auch weitere Beschwerden auf, die von Schlaf- und Konzentrations- bis hin zu Angststörungen und Depressionen reichen.
Deshalb wurden in Studien unter anderem Antidepressiva, Anxiolytika, Antiepileptika und Anästhetika getestet. Doch systematische Reviews ergaben, dass nur eine schwache Datenlage die Wirksamkeit stützt, erklärt die Autorin. Deshalb würden die Arzneimittel auch nicht von Leitlinien für die Tinnitustherapie empfohlen. Noch schlechter ist die Bilanz von Kräuterextrakten, Nahrungsergänzungsmitteln und Vitaminen. „Ihre Wirkung ist nicht nachgewiesen“, schreibt Prof. Bauer unmissverständlich. Dasselbe gilt laut einem systematischen Review für die häufig eingesetzten Ginkgo-Präparate.
Kognitive Verhaltenstherapie brachte bisher keine Ruhe
Angeboten werden den Betroffenen auch akustische Stimulationen. Die Verfahren basieren auf der Idee, der Tinnitus sei die Folge von fehlerhaften Kompensationsversuchen des Gehirns bei Hörproblemen. Tier- und Computerversuche deuten tatsächlich auf einen solchen Mechanismus hin, aber gilt das auch für den Menschen? Nur bedingt, meint Prof. Bauer.
Während in einigen Studien eine Wirkung gezeigt wurde, bestätigen andere diese nicht. Eine akustische Stimulation mit einem Soundgenerator kombiniert mit einer Beratung könnte laut einer aktuellen Untersuchung die auf die Beschwerden gerichtete Aufmerksamkeit und negative Emotionen signifikant reduzieren. Eine kognitive Verhaltenstherapie war bisher in Studien nicht in der Lage, die Lautstärke des Ohrgeräusches zu senken. Aber immerhin können die Patienten anschließend ihr Leben wieder mehr genießen. Jedoch seien die Studien oft schlecht und die Beweislage dementsprechend dünn, kritisiert die Expertin.
Bietet die transkraniale Magnetstimulation Hoffnung? Ein starkes Magnetfeld soll dabei von außen elektrische Ströme induzieren und so die neuronale Aktivität in einzelnen Kerngebieten manipulieren. „Systematische Reviews von randomisierten Untersuchungen haben widersprüchliche Ergebnisse gefunden in Hinsicht auf einen klinischen Benefit “, schreibt Prof. Bauer, „und einen Mangel an Informationen über die langfristigen Effekte“.
Möglicherweise scheiden sogenannte Aufmerksamkeitstrainings besser ab. Einige Forschungsarbeiten legten nahe, dass sich die Betroffenen abnormal stark auf das Fiepen konzentrieren, was das Geräusch aufrechterhalten bzw. sogar verstärken könne. Tatsächlich sei es in ersten kleinen Studien gelungen, beispielsweise mithilfe von Spielen die Symptome der Patienten zu lindern und ihre Lebensqualität zu verbessern.
Fünf Schritte, wenn's piept
- Mittels eines Fragebogens abklären, ob der Tinnitus den Patienten belastet.
- Patientenhistorie betrachten – könnte z.B. ein Hörverlust hinter dem Fiepen stecken?
- Wer mindestens sechs Monate betroffen ist oder Hörprobleme hat, sollte audiologisch untersucht werden.
- Unterscheidung zwischen belastendem und anhaltendem Tinnitus; Patienten über spontane Remission aufklären.
- Patienten mit belastendem, permanentem Tinnitus
- über Strategiemöglichkeiten informieren.
- bei gleichzeitigem Hörverlust ein Hörgerät empfehlen.
- kognitive Verhaltenstherapie anbieten.
Bei 20–40 % verschwindet der nervige Ton von allein
Zwar benötigt man noch weitere Erkenntnisse über die Pathogenese, um eine effiziente Tinnitustherapie zu entwickeln. Eine gute Nachricht kann die Kollegin allerdings schon heute berichten: Innerhalb von fünf Jahren verschwindet das Symptom bei 40 % der leichter Betroffenen von alleine und immerhin bei 20 % der stärker Involvierten. Bei ihrem 55-jährigen Patienten würde Prof. Bauer Differenzialdiagnosen ausschließen, den Schweregrad mittels Tinnitus Handicap Inventory Questionnaire und einen potenziellen Hörverlust mittels Audiogramm ermitteln. Im Falle von unterschiedlich stark betroffenen Ohren würde sie eine Bildgebung veranlassen, bei einem Hörverlust ein Hörgerät empfehlen und bei einer psychischen Erkrankung oder starkem Stress an einen Psychiater überweisen. Eventuell käme für den Patienten außerdem kognitive Verhaltenstherapie, Beratung und akustische Stimulation infrage.Quelle: Bauer CA. N Engl J Med 2018; 378: 1224-1231