Rezension „The Discovery of Insulin“ auf Deutsch
Professor Dr. Michael Bliss lehrte als Professor für Geschichte in Toronto. Sein Vater war Arzt und auch der Sohn wollte diesen Beruf ergreifen. Als Bliss aber seinem Vater bei der Versorgung einer blutigen Schnittwunde zusah, entschied er, nicht Medizin zu studieren. Doch er wurde, nachdem er sich als Professor in Toronto zuvor mit Wirtschaftsgeschichte befasst hatte, zu einem der erfolgreichsten Medizinhistoriker. Er schrieb Biografien über Harvey Cushing, den Begründer der modernen Neurochirurgie, und über Sir William Osler – der kanadische Internist gilt im englischen Sprachraum als bedeutendster Arzt seiner Zeit. Am bekanntesten sind jedoch Prof. Bliss‘ Arbeiten über die Geschichte der Entdeckung des Insulins, beginnend 1982 mit dem Buch „The Discovery of Insulin“.
Mythen entzaubert – dank Zeitzeugen und Archivmaterial
Prof. Bliss konnte noch viele Zeitzeugen befragen und erstmals wurde für ihn das gesamte Archivmaterial der Universität Toronto verfügbar gemacht. So konnte er als akribischer Historiker viele Mythen richtigstellen, die sich um die Entdeckung der Insulintherapie rankten. Denn durch Frederick G. Banting und besonders später durch Charles Best war der Eindruck entstanden, die Beiträge von John MacLeod und James Collip seien unbedeutend gewesen. In Wahrheit wurde die erste erfolgreiche Insulintherapie mit Insulin durchgeführt, das der Biochemiker Collip isoliert hatte, Bantings Präparat hatte zuvor versagt.
Auch die Verdienste des Chemikers George H. A. Clowes vom Unternehmen Eli Lilly, der durch seine Verfahren die ergiebige Produktion von Insulin überhaupt erst ermöglichte, wurden kaum gewürdigt. Banting hatte man als ersten kanadischen Nobelpreisträger zum Nationalhelden überhöht und Charles Best, der Banting und MacLeod lange überlebte, trug keineswegs dazu bei, diesen Mythos geradezurücken. Bliss korrigierte dies und kam zu dem Schluss: „There was enough Glory for All!“ 1984 folgte das Buch „Banting – a Biography“, in dem Bliss das Leben von Banting mit all seinen Höhen und Tiefen detailliert beschreibt.
Geschichte wird durch Bliss wieder lebendig
Michael Bliss verstarb 2017. Ich hatte noch das Glück, ihn auf der Jahrestagung der Amerikanischen Diabetes-Gesellschaft persönlich zu treffen und sein Buch mit persönlicher Widmung ist eines der Highlights meiner historischen Büchersammlung zur Diabetesgeschichte.
Der Verlag kündigt „Die Entdeckung des Insulins“ als „aus dem Amerikanischen“ übersetzt an. Da wird jeder Kanadier vehement protestieren – Bliss schrieb ein geschliffenes britisches Englisch. Wer sein Englisch trainieren möchte, dem kann ich die Originalversionen seiner Werke sehr empfehlen. Bliss ist es in seinen Büchern immer wieder gelungen, Geschichte sehr lebendig darzustellen. Im Vorwort seiner Banting-Biografie zitiert Bliss den Dichter Walt Whitman, der über die Arbeit eines Biografen schrieb: „Er zerrt die Toten aus ihren Särgen und stellt sie wieder auf die Beine. Er sagt zur Vergangenheit: Steh auf und geh vor mir her, damit ich dich erkennen kann.“
Liest man das Buch über die Entdeckung des Insulins, so wird man in diesem Sinne lebendig in die damalige Zeit zurückversetzt. Und für wen das Buch gedacht ist, schrieb Bliss selbst im Vorwort: „Das Buch wendet sich an jeden intelligenten Leser. Alle Leser werden also kleinere Unannehmlichkeiten in Kauf zu nehmen haben. Laien werden ein paar nicht sehr schwierige medizinische Begriffe lernen müssen. Die Mediziner müssen verstehen, dass ich manchmal gezwungen bin, einige sehr komplexe Sachverhalte zu vereinfachen oder zu ignorieren.“
Hervorragende Übersetzung durch Dr. Robert Augustin
Das von Dr. Robert Augustin hervorragend übersetzte Buch sollte eine Pflichtlektüre für alle sein, die sich mit Diabetes beruflich befassen, und ist auch für sogenannte Laien hochinteressant. Dr. Augustin – der Biochemie studiert hat und bei Boehringer Ingelheim daran arbeitet, neue Ansätze und Wirkstoffe zur Behandlung von Stoffwechselerkrankungen zu finden und zu erforschen – hat übrigens viele Worterklärungen eingefügt, was für Nichtmediziner sicherlich sehr hilfreich ist.
Video-Interview mit dem Übersetzer
Im Video-Interview erklärt Dr. Robert Augustin, wie es zur Übersetzung von Michael Bliss‘ Buch „The Discovery of Insulin“ kam und was ihn dazu motiviert hat. Aus seiner eigenen Forschung – u.a. am Deutschen Institut für Ernährungsforschung – und weil er medizingeschichtlich interessiert ist, weiß er: „Wichtig ist, dass man Forschung im Kontext sieht. Letztendlich beruht das, was wir machen, auf dem, was schon da ist.“
Wer das englische Original lesen möchte: Es ist anlässlich des „100. Geburtstages“ des Insulins neu erschienen. Es enthält auch etwas Neues: ein Vorwort, das Bliss noch zu Lebzeiten verfasst hat, weil er ahnte, dass sein Werk eine Neuauflage erleben würde, wenn sich dieses zentrale Ereignis in der Medizingeschichte zum hundertsten Mal jährt.