Medizinhistorischer Meilenstein Lebensretter Insulin feiert 100. Geburtstag
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Am 27. Juli 1921 gelang es dem Arzt Frederick Banting und dem Biochemiker Charles Best erstmals, Insulin aus der Bauchspeicheldrüse von Hunden zu isolieren. Der Entdeckung dieser beiden Pioniere verdanken Millionen Menschen mit Diabetes ihr Leben – und seit meiner Diagnose Typ-1-Diabetes vor gut elf Jahren gehöre auch ich zu ihnen. Für uns alle ist dieses Jubiläumsjahr daher ein ganz besonderes mit vielen Gänsehaut-Momenten.
Grußwort von Jens Spahn:
Ein Hoch auf die pharmazeutische Forschung und ein Ja zur Unterstützung von Kindern mit Diabetes
„In der Coronapandemie ist uns allen bewusst geworden, wie wichtig es ist, ein gutes Gesundheitswesen zu haben.“ Mit diesen Worten eröffnete Bundesgesundheitsminister Jens Spahn den Festakt mit 100 geladenen Gästen in Berlin. Dazu gehöre auch die pharmazeutische Forschung und der einfache Zugang zu lebenswichtigen Medikamenten wie Insulin. „Nachdem wir uns nun 18 Monate lang auf die Bekämpfung einer Infektionserkrankung konzentriert haben, ist es nun an der Zeit, uns wieder auf die Aufklärung und Prävention bei nicht-übertragbaren Erkrankungen zu fokussieren“, sagte der Minister. Dabei möchte er anknüpfen an die Nationale Diabetes Surveillance am Robert Koch-Institut (seit 2015), das Informationsportal diabinfo.de (seit 2020) und die endlich (ebenfalls 2020) im Bundestag verabschiedete Nationale Diabetesstrategie.
Der Vorsitzende von diabetesDE, Dr. Jens Kröger, zeigte sich dennoch nicht zufrieden: „Es ist gut, dass es nun eine Nationale Diabetesstrategie und bald auch ein DMP Adipositas gibt – aber das alles hat noch nicht richtig an Fahrt aufgenommen!“ DDG Präsident Professor Dr. Andreas Neu wiederum mahnte an, dass es immer noch keine bundeseinheitliche Regelung für Kinder mit Typ-1-Diabetes gibt, damit sie Kitas und Schulen besuchen können, ohne dass ein Elternteil beruflich zurückstecken oder gar den Job aufgeben muss: „Werden Sie sich dafür einsetzen, dass sich diese Situation verbessert?“ Spahn erwiderte: „Bildung ist Ländersache, daher kann ich kein Bundesgesetz versprechen, das vorschreibt, was Schulen und Kitas leisten müssen.“ Allerdings sei der – bundeseinheitlich geregelte – Leistungskatalog der Krankenkassen in diesem Punkt möglicherweise ausbaufähig. Weitere Punkte könne er auf der nächsten Gesundheitsministerkonferenz ansprechen.
Was für eine furchtbare Diagnose Typ-1-Diabetes vor 100 Jahren noch war, verdeutlichte der Vortrag von Dr. Viktor Jörgens, der historische Fotos von Patienten zeigte, die binnen weniger Monate abgemagert an den Folgen des Insulinmangels und der damals üblichen „Hungerdiät“ verstarben. Aber auch Labornotizen von Banting und Best waren dabei sowie Bilder der ersten Diabetespatienten, bei denen das isolierte Insulin erfolgreich den Blutzucker senkte.
Darunter der 13-jährige Leonard Thompson, der nur noch 29 kg wog und dem diabetischen Koma nah war, als ihm am 23. Januar 1922 als erstem Menschen Insulin injiziert wurde. Er lebte noch 13 weitere Jahre, bis er an einer Lungenentzündung starb.
Heldengeschichten, bei denen kein Auge trocken bleibt
Der vierjährige Theodore Ryder, der vor seiner Therapie nur noch 12,5 kg wog, dank Insulin aber rasch zunahm, schrieb Banting: „Ich wünschte, Sie könnten mich jetzt sehen. Ich bin ein dicker Junge, fühle mich gut und kann auf Bäume klettern.“ Der Junge durfte noch 70 weitere Jahre ohne nennenswerte Folgeschäden leben. Oder Elisabeth Hughes, die elfjährige Tochter des US-amerikanischen Präsidentschaftskandidaten von 1916, Charles Evan Hughes, der auf Drängen seiner Frau seinen politischen Einfluss nutzte, um seine Tochter von Banting behandeln zu lassen. Das Mädchen wog nur noch gut 20 kg und konnte kaum noch gehen – nach ein paar Wochen hatte sie schon einige Kilo zugenommen und freute sich, dass sie wieder Weißbrot und Makkaroni essen durfte. Als ich mich bei Dr. Jörgens Schilderungen verstohlen im Saal umsah, war ich erleichtert, dass ich nicht die einzige war, die sich angesichts dieser aus heutiger Sicht unvorstellbaren Schicksale ein paar Tränen von den Wangen wischen musste. Die Verdienste von Banting und Best, denen 1923 gemeinsam mit John James Richard McLeod und James Collip der wohlverdiente Medizinnobelpreis verliehen wurde, sie sind nun einmal eine Heldengeschichte, bei der kein Auge trocken bleibt. Doch sie markierte ja erst den Anfang. Mit Dr. Hans Christian Hagedorn, der zusammen mit seiner Frau in seiner heimischen Küche Bauchspeicheldrüsen von Schweinen durch den Fleischwolf drehte, mit Alkohol versetzte und filtrierte, startete die Insulinproduktion in Europa. Und obgleich die Insulintherapie seither immer wieder weiterentwickelt wurde, stellt sie Forscherinnen und Forscher bis heute vor große Herausforderungen, wie Professor Dr. Thomas Forst verdeutlichte: „Wir spritzen Insulin noch immer dorthin, wo es eigentlich nicht hingehört.“ Denn mit der physiologischen Freisetzung über die Leber im gesunden Stoffwechsel kann es die Insulinresorption aus dem subkutanen Fettgewebe nun einmal nicht aufnehmen. „Wir haben in den vergangenen 100 Jahren viel erreicht und stehen trotzdem noch ganz am Anfang“, betonte er. Dessen unbenommen ist Insulin ein Arzneimittel, mit dem man damals wie heute nur einen einzigen Patienten behandeln muss, um ein Leben zu retten. Kein Diabetesmedikament, das seither auf den Markt gekommen ist, kann eine solche NNT (number needet to treat) aufweisen. Und doch ist Insulin nicht alles, was es für eine erfolgreiche Diabetestherapie braucht, wie DDG Präsident Professor Dr. Andreas Neu schilderte: „Trotz hochentwickelter Therapieformen wie CSII, sensorunterstützte Pumpentherapie etc. ist man in der pädiatrischen Diabetologie noch immer weit entfernt vom HbA1c-Ziel < 7 %, und es sterben immer noch Kinder an diabetischen Ketoazidosen.“ Nach wie vor reißt der Diabetes Kinder aus ihrem Alltag und erschwert ihre Teilhabe – sei es in der Kita, beim Sport oder in der Schule. Insbesondere Mütter von Kindern mit Typ-1-Diabetes sind hochbelastet, Familien mit geringer Gesundheitskompetenz oder Sprachproblemen erhalten nicht die Hilfen, die sie benötigen. Um diese Lücken zu schließen, forderte Prof. Neu zum einen eine breite Aufklärung der Bevölkerung über die Symptome des Typ-1-Diabetes, zum anderen qualifizierte Behandlungseinrichtungen für die stationäre wie ambulante Versorgung, eine flächendeckende psychosoziale Versorgung sowie eine verbesserte Inklusion in Kitas, Kindergärten und Schulen: „Insulin öffnet diesen Kindern das Tor zum Leben, doch es braucht mehr, damit sie ganz normal aufwachsen können wie andere auch. Es braucht aber politischen Wille, um die Rahmenbedingungen zu verbessern.“Ein sparsamer Umgang mit dem kostbaren Lebenselixier
Auch Matthias Steiner, der seit seinem 18. Geburtstag mit Typ-1-Diabetes lebt und dank seiner olympischen Goldmedaille im Gewichtheben 2008 als „stärkster Mann der Welt“ bekannt ist, konzentrierte sich auf das gesellschaftliche Umfeld für ein gesundes Leben: „Wir brauchen eigentlich keine Diabetesstrategie, sondern viel mehr Prävention!“ Denn wo man auch hinblickt, überall locken kohlenhydrat- und fettreiche Kalorienfallen, die Menschen das Abnehmen schwer machen. Hier müsste man ansetzen und damit das Diabetesrisiko in der Bevölkerung senken. „Insulin ist ein kostbares Lebenselixier – doch wir sollten es sparsam einsetzen.“ Denn anders als Bantings erste Patienten sind die wenigsten von uns so ausgemergelt, dass wir uns mithilfe von Insulin ein paar mehr Kilos auf die Rippen futtern müssen.Quelle: Festakt „100 Jahre Insulin“ von diabetesDE – Deutsche Diabetes-Hilfe