Wenn der Zugang zu Insulin fehlt – WHO fordert weltweiten Fokus auf Diabetes
Auf einem Online-Gipfel hat die Weltgesundheitsorganisation (WHO) zu neuen Maßnahmen zur Bekämpfung von Diabetes aufgerufen. Die Versorgung von Menschen mit Diabetes sei zunehmend gefährdet. Es hätten „zu viele Menschen immer noch keinen Zugang zu diesem unentbehrlichen, lebensrettenden Medikament“.
950.000 Menschen in der EU mit diabetischer Retinopathie
Der von der WHO ins Leben gerufene „Globale Diabetes-Pakt“ soll helfen, dies zu ändern. Die benötigten Mittel müssten auch während der COVID-19-Pandemie verfügbar gemacht werden, heißt es in Richtung der Regierungen weltweit. Erinnert wird an ein historisches Datum: die Entdeckung des Insulins vor 100 Jahren. „Diabetes ist eine Krankheit, die sich immer weiter ausbreitet, die aber immer noch ein Schattendasein fristet“, kritisiert Dr. Nino Berdzuli, Leiterin der Abteilung Gesundheitsprogramme der Länder beim WHO-Regionalbüro für Europa.
Deutlich wird die Unterversorgung u.a. bei Augenvorsorgeuntersuchungen für Menschen mit Diabetes. Schätzungsweise 950.000 Personen in der EU sind von der diabetischen Retinopathie betroffen, einer häufigen Ursache verhinderbarer Sehbehinderungen und Erblindungen. Laut Regionalbüro verfügen aber nur sehr wenige Staaten über hochwertige Programme für diese Erkrankung. Lediglich sechs Mitgliedstaaten hätten in einer Befragung von einer vollständigen landesweiten Liste aller Menschen mit Diabetes berichtet, die für regelmäßige Augenuntersuchungen herangezogen werden könne. 17 Länder hätten keinerlei Angaben zur Bereitstellung bzw. Inanspruchnahme von Vorsorgeuntersuchungen auf diabetische Retinopathie machen können.
In dem im April veröffentlichten „Global Diabetes Compact“ fasst die WHO zehn Gründe zusammen, warum der Fokus weltweit auf Diabetes gerichtet werden sollte. So gebe es u.a. steigende Erkrankungszahlen, unzureichende Prävention, Lücken bei Diagnose und Behandlung, einen fehlenden oder lückenhaften Zugang zu auf Diabetes spezialisierten Hilfen. Die Todesfälle aufgrund von Diabetes sind laut WHO seit dem Jahr 2000 um 70 % gestiegen, die Fälle vorzeitigen Todes aufgrund von Diabetes seit 2010 um 5 %. Bis zum Jahr 2045 wird mit 700 Mio. Menschen gerechnet, die weltweit an Diabetes erkrankt sein werden. Zurzeit sind es 420 Mio. Diabetes steht inzwischen auf Platz 9 der Liste der Todesursachen.
Dieses Jahr sei ein Jahr des Rufs zum Aufwachen, mahnt der WHO-Generaldirektor Dr. Tedros Adhanom Ghebreyesus. In diesem Sinne argumentiert auch die Organisation „Ärzte ohne Grenzen“. Der Leiter der Entdeckergruppe des Insulins, Frederick Banting, habe schließlich mit dem Stoff kein Geld verdienen wollen. „Insulin gehört nicht mir, es gehört der Welt“, hatte der kanadische Arzt damals betont.
An der praktischen Umsetzung von Bantings Versprechen hapert es jedoch. „Es ist entmutigend, wenn wir in der Praxis sehen, dass die Menschen so viele Schwierigkeiten haben, Insulin zu bekommen“, erklärt Dr. Brian Nyagadza, Arzt in einem Projekt in Zimbabwe. Patienten hätten „keine andere Wahl, als ihr Insulin zu rationieren und weniger zu nehmen, als sie eigentlich brauchen“. Dadurch seien sie einem hohen Risiko für lebensgefährliche Komplikationen ausgesetzt.
„Ärzte ohne Grenzen“ macht die Hersteller des Insulins für die Defizite verantwortlich. Drei Pharmaunternehmen – Novo Nordisk, Eli Lilly und Sanofi – kontrollierten 99 % des weltweiten Insulinangebots – und alle drei verlangten Preise, die sich viele Menschen in ärmeren Ländern nicht leisten könnten, klagt die Hilfsorganisation.
Allerdings arbeiteten mehrere Hersteller daran, biosimilare Insuline zu günstigeren Preisen bereitzustellen. Die WHO unterstütze das seit 2019 mit einem Präqualifizierungsprogramm. Doch bisher habe kein Hersteller die Qualifizierung abgeschlossen. „Die WHO muss hier Prioritäten setzen und den Prozess beschleunigen“, sagt Marco Alves von der Medikamentenkampagne von „Ärzte ohne Grenzen“ in Deutschland.
Der Internist Dr. Tankred Stöbe ist seit 18 Jahren für „Ärzte ohne Grenzen“ in Krisengebieten im Einsatz. Er berichtet aus dem Jemen von Kindern, die mit unbehandeltem Typ-1-Diabetes an Nierenversagen sterben. Es gebe furchtbare Verläufe, weil kein Insulin da sei oder es unbezahlbar sei, so der ehemalige Präsident der Hilfsorganisation.
Unternehmen weisen Kritik an zu hohen Preisen von sich
Die angesprochenen Unternehmen weisen die Kritik der Ärzte an zu hohen Arzneimittelpreisen von sich. So erklärt Sanofi Global Health auf Anfrage von Medical Tribune, dass zusammen mit Partnern Initiativen für die am stärksten gefährdeten Bevölkerungsgruppen in Ländern mit niedrigem und mittlerem Einkommen durchgeführt werden, um nachhaltige medizinische Lösungen – u.a. zu Diabetes – anzubieten.
Novo Nordisk räumt ein, dass nicht alle Patienten gleichermaßen vom Fortschritt profitieren, in einigen Ländern gebe es noch immer Hürden beim Zugang zu adäquater Versorgung. Das Unternehmen habe sich allerdings verpflichtet, dauerhaft ein kostengünstiges Insulin im Produktportfolio zu führen und Humaninsulin auf Jahre hinaus zu produzieren und verfügbar zu machen.
Lilly Deutschland verweist darauf, dass Insulin beispielsweise hierzulande einem Festpreis unterliegt, der nicht frei von den Pharmaunternehmen gestaltet werden kann.
Medical-Tribune-Bericht