Schwere Anorexie Nach Hungerphasen zurück zur Normalität

DGPPN 2023 Autor: Friederike Klein

Nehmen die Patientinnen frühzeitig wieder normale Kalorienmengen zu sich, werden sie schneller stabil. Nehmen die Patientinnen frühzeitig wieder normale Kalorienmengen zu sich, werden sie schneller stabil. © VadimGuzhva – stock.adobe.com

Nach ausgeprägten Hungerperioden kann bei Wiederernährung zum Refeeding-Syndrom kommen, das mitunter lebensbedrohliche Ausmaße annimmt. Trotzdem sollte man bei einer schwergradigen Anorexie nicht zu niedrigkalorisch mit der Wiederernährung beginnen.

Beginnen anorektische Patienten, wieder mehr zu essen, kann das zu einer schweren metabolischen Entgleisung führen: dem Refeeding-Syndrom. Typisch dafür sind erniedrigte Serumelektrolytkonzentrationen (Kalium < 2,5 mmol/l, Phosphat < 0,32 mmol/l, Magnesium < 0,5 mmol/l) innerhalb von fünf Tagen nach Nahrungswiederaufnahme. Es kommt zu peripheren Ödemen oder einer akuten Flüssigkeitsüberlastung des Kreislaufs, zudem drohen Störungen der Organfunktionen bis zu Atemstillstand, Herzversagen und Lungenödem.

Vor dem Beginn und während der Wiederaufnahme der Ernährung bei schwerstgradiger Anorexie sind daher die Serumelektrolyte und der Flüssigkeitshaushalt engmaschig zu kontrollieren, erläuterte Dr. Silke Naab, Jugendabteilung der Schön Klinik Roseneck in Prien. In ihrer Klinik wird mit Beginn der Wiederernährung eine Substitution mit Phosphat, Kalzium/Cholecalciferol, Thiamin, Vitamin B und gegebenenfalls Kalium und Magnesium durchgeführt. Die orale Ernährung erfolgt normokalorisch anstatt wie vielerorts noch üblich niedrigkalorisch, erklärte sie. Die Patienten starten mit 2.000 kcal/d bzw. der Menge, die sie tolerieren können. Danach wird die Energiezufuhr um täglich 200 kcal/d gesteigert. Bei allen Mahlzeiten gibt es eine therapeutische Begleitung.

Die Kontrolle von Kalium, Natrium und Laktat erfolgt alle zwei Tage, einmal pro Woche werden zudem im Labor Kalzium, Phosphat, Natrium und Kalium bestimmt. Eine sonografische Kontrolle ist nur bei klinischen Auffälligkeiten sinnvoll. Die Patienten nehmen gemeinsam drei Hauptmahlzeiten und eine Zwischenmahlzeit am Nachmittag ein. Gelingt es ihnen damit nicht, die angestrebte Kalorienzahl zu erreichen, erhalten sie am Morgen eine weitere Zwischenmahlzeit.

Ergebnisse einer US-amerikanischen Studie belegen, dass mit einer normokalorischen Wiederernährung signifikant früher medizinische Stabilität mit einer rascheren Erhöhung der mittleren Herzfrequenz und einem deutlich schnelleren BMI-Zuwachs erzielt wird, als wenn der Start niedrigkalorisch erfolgt. In einer Priener Stichprobe von 103 extrem untergewichtigen Patienten mit Anorexia nervosa (BMI < 13 kg/m²) führte die normokalorische Wiederernährung zu einer Gewichtszunahme von 1.050 g pro Woche in den ersten vier Wochen. Der mittlere BMI stieg von 11,5 auf 12,8, ohne dass es zu Komplikationen kam. Allerdings lag die Rate der Therapieabbrüche in dem streng überwachten Setting bei 20 %.

Die Art des Kalorienaufbaus ist kein eigener Risikofaktor

Dr. Naab betonte, das Risiko eines Refeeding-Syndroms sei nicht von der Art des Kalorienaufbaus abhängig. Stattdessen gibt es andere klinische Risikofaktoren. Dazu gehören ein sehr niedriger BMI bei Aufnahme (Altersperzentil ≤ 0,1 %) sowie ein deutlich erniedrigter Kalium-, Phosphat- und/oder Magnesiumspiegel vor der Wiederernährung. Ein Gewichtsverlust von 15 % in den letzten 3–6 Monaten sowie eine komplett ausgesetzte Ernährung in den letzten 3–5 Tagen vor Beginn der Wiederaufnahme sind ebenfalls prognostisch ungünstig.

Das bestätigte sich auch bei dem einzigen Fall eines Refeeding-Syndroms in Prien: Eine 16-jährige Patientin mit Anorexie hatte zehn Tage vor Therapiebeginn zu Hause das Essen deutlich eingeschränkt, sich exzessiv bewegt und so noch einmal 5 kg abgenommen. Wenige Tage vor der stationären Aufnahme begann sie wieder zu essen. Bei der stationären Aufnahme wog sie 33 kg und wies einen BMI von 12,9 auf. Rasch zeigte sich ein Hämoglobinabfall des schon zuvor erniedrigten Hämoglobinwertes und eine Verschlechterung des Allgemeinzustands, sodass die junge Frau in die Kinderklinik verlegt wurde. Dort wurde die Diagnose eines Refeeding-Syndroms gestellt.

Nach Rückverlegung in die Priener Klinik erfolgte eine Substitution von Thiamin, Phosphat, B-Vitaminen und Kalzium. Der weitere Verlauf war komplikationslos und sie konnte mit einem Gewicht von 49,3 kg (BMI 19,1) aus der stationären Therapie entlassen werden.

* Deutsche Gesellschaft für Psychiatrie und Psychotherapie, Psychosomatik und Nervenheilkunde e. V.

Quelle: DGPPN-Kongress* 2023