Früher Therapiebeginn Bei Anorexie nicht lange fackeln

Autor: Dr. Joachim Retzbach

Kurze Erkrankungsdauer und höherer BMI bei Aufnahme sind entscheidend für den Therapieerfolg der Anorexia nervosa. (Agenturfoto) Kurze Erkrankungsdauer und höherer BMI bei Aufnahme sind entscheidend für den Therapieerfolg der Anorexia nervosa. (Agenturfoto) © Photographee.eu – stock.adobe.com

Anorexia nervosa verläuft chronisch, ist schwer therapierbar und mit hoher Sterblichkeit verbunden. Ein rascher Therapiebeginn nach Auftreten der ersten Symptome erhöht die Chance auf eine erfolgreiche Behandlung. Doch wie lässt sich dieses Ziel erreichen?

Störungen des Essverhaltens sind unter Jugendlichen weit verbreitet. Insbesondere Magersucht gilt als gefährlich, da sie eine sehr hohe Mortalitätsrate aufweist. Die Behandlung gestaltet sich oft schwierig, mit hohen Raten an Abbrüchen, Non-Respondern und Rückfällen muss gerechnet werden. Je früher eine Therapie beginnt, des­to besser ist jedoch die Prognose. Daher ist es bei Anorexia nervosa wichtig, die Dauer der unbehandelten Erkrankung so kurz wie möglich zu halten, betonte Prof. Dr. ­Antje Gumz von der Psychologischen Hochschule Berlin.

Gemeinsam mit Kollegen hat Prof. Gumz in einer multizentrischen, retrospektiven Studie untersucht, wie man Betroffene früher erreichen kann. 125 Anorexie­patientinnen im Alter von mindestens 14 Jahren (im Durchschnitt 19 Jahre), deren Erstbehandlung maximal zwölf Monate zurücklag, beantworteten Fragen zu der Zeit zwischen dem Einsetzen erster Symptome und dem Therapiebeginn. Derselbe Fragebogen wurde 89 engen Angehörigen vorgelegt – in den meisten Fällen der Mutter. Auch 40 Primärversorger, hauptsächlich Haus- oder Kinderärzte der Patientinnen, beantworteten die Fragen aus ihrer Perspektive.

Die Sichtweisen sowohl der Patientinnen als auch der Angehörigen unterschieden sich deutlich von denen der Primärversorger. So war es für die Betroffenen selbst am hilfreichsten, wenn sie Medienbeiträge über die erfolgreiche Behandlung von anderen Magersüchtigen gesehen oder gelesen hatten, etwa in TV-Reportagen, Zeitschriften oder sozialen Netzwerken. Die Angehörigen wiederum waren sich in einem anderen Punkt einig: Sie hatten es als besonders negativ empfunden, wenn ein Arzt mit den Schwierigkeiten der Kinder aus ihrer Sicht schlecht umgegangen war, indem er die Beschwerden beispielsweise nicht ernst genommen oder verharmlost hatte. 

Die Ärzte schließlich schätzten sich selbst unter dem Strich als wesentlich kompetenter ein, als es der Wahrnehmung durch die anderen beiden Gruppen entsprach. Insbesondere gingen sie in stärkerem Maß davon aus, hilfreich und in ihren Aussagen eindeutig gewesen zu ein.

Vor allem mediale Informationen über andere Betroffene und ihre positiven Behandlungserfahrungen seien daher wichtig, so Prof. Gumz. „Artikel, Bücher und Videos zum Thema sollten in Wartezimmern, in Schulen und Beratungsstellen präsenter sein.“ Auch müssten die Primärversorger besser geschult werden, da sie meist die entscheidende Rolle bei der Erstdiagnose spielen und imstande sein sollten, kompetent über Therapieoptionen zu informieren.

Wann in die Klinik bei Magersucht?

Bereits wenn eines dieser Kriterien im Rahmen von Anorexia nervosa zutrifft, sollte leitliniengerecht eine stationäre Aufnahme erfolgen:

  • rapider oder anhaltender Gewichtsverlust (> 20 % über sechs Monate)
  • gravierendes Untergewicht (BMI < 15 kg/m2 bzw. bei Kindern und Jugendlichen unterhalb des dritten Altersperzentils)
  • geringe Energieaufnahme, Verweigerung des Trinkens
  • ausgeprägte psychische Komorbidität
  • körperliche Gefährdung oder Komplikationen
  • dysfunktionale familiäre Interaktionen
  • mangelnde ambulante Versorgungsmöglichkeiten oder mangelndes Ansprechen auf ambulante Therapie

Therapiedauer und BMI bei Aufnahme sind Prädiktoren

Dass ein frühzeitiger Beginn der Therapie essenziell ist, betonte auch Dr. ­Silke Naab, Schön Klinik Roseneck in Prien am Chiemsee. Sie stellte die Ergebnisse einer aktuellen Studie vor, an der 962 jugendliche Anorexiepatientinnen teilgenommen hatten. Ein wichtiger Prädiktor für einen erfolgreichen Therapieverlauf (definiert als BMI ≥ 18,5 kg/m2 bei Entlassung) war eine kürzere Erkrankungsdauer vor Behandlungsbeginn. Als förderlich erwiesen sich ebenfalls z.B. eine längere Therapiedauer und ein höherer BMI bei Aufnahme.
„Entscheidend ist eine frühe und kontinuierliche Gewichtssteigerung“, erläuterte die Expertin. Auch sie hält die Haus- und Kinderärzte für die wichtigsten Knotenpunkte im Behandlungsnetzwerk und fordert von diesen mehr Wachsamkeit: „Die Patienten kommen oft erst sehr, sehr spät zu uns in Behandlung. Das liegt auch daran, dass die Krankheit schleichend und verdeckt verläuft.“

Ängste vor dem Erwachsenwerden bzw. eine generell hohe Ängstlichkeit deuteten dagegen nicht auf eine schwierige Behandlung hin, so Dr. Naab – eher im Gegenteil. Diese Probleme könnten gut gesprächstherapeutisch angegangen werden, was letztlich der Beziehung zwischen Ärzten und Patientinnen zugute komme und das Outcome der Therapie insgesamt verbessere. Sie wies zudem darauf hin, dass eine intensive Vernetzung mit nachstatio­nären Behandlungsangeboten nötig ist. Als Beispiele nannte sie neben der ambulanten Psychotherapie die Intervalltherapie, also einen Wechsel zwischen ambulanter und stationärer Versorgung, sowie die Integration der Betroffenen in therapeutische Wohngruppen.

Quelle: DGPPN*-Kongress 2022

* Deutsche Gesellschaft für Psychiatrie und Psychotherapie, Psychosomatik und Nervenheilkunde