Neuromuskuläre Erkrankung trifft COVID-19 – immunsuppressive Therapie nicht einfach absetzen

Autor: Manuela Arand

Unter einer Infektion mit SARS-CoV-2 leiden nicht nur die Lungen, sondern auch Muskulatur und Nevensystem. Unter einer Infektion mit SARS-CoV-2 leiden nicht nur die Lungen, sondern auch Muskulatur und Nevensystem. © Science Photo Library/FERNANDO DA CUNHA

Patienten mit neuromuskulären Erkrankungen scheinen nicht zu denen zu gehören, die im Fall einer Infektion mit SARS-CoV-2 besonders vulnerabel sind. Faktoren wie Heimbeatmung, Schwäche der Atemhilfsmuskulatur oder Dysphagie erhöhen jedoch das Risiko.

Anlässlich der Tagung der World Muscle Society Anfang Oktober 2020 haben weltweit 24 neuromuskuläre Zentren die Daten von mehr als 22.000 ihrer Patienten zusammengetragen. Darunter waren auch 1611 mit Heimbeatmung, berichtete Professor Dr. Benedikt Schoser, Neurologische Klinik der Universität München. Bei 24 von ihnen wurde eine SARS-CoV-2-Infektion diagnostiziert, fünf starben daran.

Das Virus persistiert nicht nur im Endothel, sondern auch im Muskel, und dies unter Umständen über lange Zeit. Muskuläre Schäden können ohne relevante pulmonale Beteiligung auftreten, und das zu einem Zeitpunkt, da der Nasen-Rachen-Abstrich schon wieder negativ ausfällt.

Die neuromuskuläre Beteiligung bei COVID-19 ist in bis zu 70 % der Fälle durch die klinische Trias Myalgie, Fatigue und Hyper-CK-Ämie gekennzeichnet. Ob sich daraus ein Post-COVID-19-Syndrom mit chronischer Fatigue oder Myalgie entwickeln wird, wie man es von SARS-CoV-1 kennt, bleibt abzuwarten, sagte Prof. Schoser.

Bei beatmungspflichtigen Patienten kann ein Krankheitsbild entstehen, bei dem Polyneuropathie und Myopathie ineinandergreifen und das als ICUAW – ICU-acquired weakness – bezeichnet wird. Ohne invasive Beatmung kommt die auf der Intensivstation erworbene Muskelschwäche offenbar nur sehr selten vor. Dies zeigen Daten des LEOSS-Registers.

Das LEOSS-Register

Im März 2020 wurde ein europäisches Fallregister unter Federführung der Uniklinik Köln geschaffen, um prospektiv klinische Daten coronainfizierter Patienten zu sammeln und der wissenschaftlichen Gemeinschaft zur Verfügung zu stellen. Stand 26. Januar 2021 überblickt das LEOSS – Lean European Open Survey on SARS-CoV-2 infected patients – genannte Register 5449 Patienten mit SARS-CoV-2-Infektion. Die Dateneingabe erfolgt anonym, um auch Daten von Patienten sammeln zu können, die nicht mehr in der Lage sind, zuzustimmen. Weitere Informationen und die Möglichkeit, sich am Projekt zu beteiligen »

Bei neu aufgetretenem GBS Liquor auch auf Corona testen

Als gravierende neuromuskuläre Komplikation droht schon wenige Tage nach Beginn der respiratorischen Symptome ein Guillain-Barré-Syndrom, das klinisch mild verlaufen, aber auch zu schweren Hirnnervenschäden und autonomer Beteiligung führen kann. In einer Übersicht, die 73 Fälle berücksich­tigte, fanden sich meist demyelinisierte Läsionen, im Liquor ließ sich bei keinem der getesteten Patienten SARS-CoV-2-RNA nachweisen. Die Sterberate betrug knapp 6 %. Während der Pandemie sollten alle Patienten mit neu aufgetretenem Guillain-Barré-Syndrom auf SARS-CoV-2 getestet werden. Auch eine Liquordiagnostik ist notwendig, um eine andere infektiöse Genese auszuschließen. Therapeutisch sind Immunglobulingabe und Plasmaaustausch gleichwertig und sollten zeitnah beginnen.

Hochrisikofaktoren für schwere Verläufe

  • Schwäche von Atemhilfsmuskulatur und Diaphragma (FVC < 60 %)
  • nicht-invasive oder invasive Beatmung
  • Tracheostoma
  • reduzierte Atemwegsclearance durch Dysphagie und oropharyngeale Schwäche
  • primäre kardiale Beteiligung
  • Fieber mit Rhabdomyolyse
  • Komorbiditäten: Diabetes, Adipositas, Neoplasie, schwere zerebrovaskuläre oder Herzerkrankung

nach Prof. Schoser, DGN-Kongress 2020

Die World Muscle Society hat Therapieempfehlungen für neuromuskuläre Erkrankungen während der Coronapandemie veröffent­licht, die auch in deutscher Srache vorliegen.1 Laufende immunsuppressive Therapien z.B. bei Myositis, Myasthenia gravis oder immunmediierten Polyneuropathien sollten fortgeführt werden.

Das eigene Beatmungsgerät in die Klinik mitnehmen

Das gilt auch für solche, die normalerweise im Zentrum erfolgen, zum Beispiel Infusionen von Rituximab oder Nusinersen. Immunglobuline können vorübergehend subkutan statt intravenös verabreicht werden, sagte der Referent. Wichtig ist, dass der Patient und seine Betreuer die Notfallmaßnahmen und die Handhabung eigener Geräte gut beherrschen, insbesondere wenn sie zu Hause beatmet werden. Die Patienten sollten, falls sie stationär aufgenommen werden müssen, unbedingt ihre eigenen Geräte mitnehmen, damit sie nicht umgestellt werden müssen, betonte Prof. Schoser.

Quellen:
1. Therapieempfehlungen für neuromuskuläre Erkrankungen während der Coronapandemie; World Muscle Society

Kongressbericht: 93. Kongress der Deutschen Gesellschaft für Neurologie (Online-Veranstaltung)