Im Interview „Bewegung bringt Normalität in den Klinikalltag“
Bewegen sich Kinder und Jugendliche, die längere Zeit im Krankenhaus verbringen, zu wenig?
Ronja Beller: Ja, das würde ich auf jeden Fall sagen. Studienergebnisse belegen, dass die Hälfte der Kinder sich weniger als eine Stunde am Tag außerhalb des Bettes aufhält, während sie stationär im Krankenhaus aufgenommen sind. Generell haben Kinder und Jugendliche aber einen großen natürlichen Bewegungsdrang, den wir durch unsere Arbeit fördern.
Liegt das nur an krankheitsbedingten Beschwerden?
Fr. Beller: Die klinischen Rahmenbedingungen sind oft nicht darauf ausgelegt, Bewegung zu fördern. Mahlzeiten werden beispielsweise ans Bett gebracht und dort verzehrt. Infusionskabel sind kurz. Es gibt meist nur kleine Tische, an die sich die Patient:innen setzen können. In den Zimmern befinden sich teilweise zusätzlich Elternliegen und es mangelt häufig an Bewegungsräumen.
Darüber hinaus spielen auch die Eltern eine wichtige Rolle. Manche sind unsicher, ob und wie ihr Kind sich bewegen kann und darf. Andere haben Ängste vor Verletzungen oder Infektionen. Andererseits können sie auch das beste Vorbild in Sachen Bewegung sein.
Welche gesundheitlichen Folgen hat Inaktivität?
Fr. Beller: Es lassen sich zahlreiche Folgeerkrankungen auf Inaktivität zurückführen. Das beginnt mit einer Gewichtszu- oder -abnahme und geht über spätere Herz-Kreislauf-Erkrankungen und Diabetes bis hin zu psychischen Problemen. Dies gilt für die Allgemeinbevölkerung, aber auch besonders für Kinder und Jugendliche mit einer Krebserkrankung. Ein Abbau der Muskulatur begünstigt unter anderem Haltungsfehler, Rückenschmerzen oder Gangunsicherheiten. Hierdurch können auch der Verlust der Selbstständigkeit (z.B. bei Toilettengängen, Anziehen, Essen), der Teilhabe sowie soziale Isolation entstehen. Auch kann Inaktivität schlechtere körperliche Voraussetzungen für Operationen oder eine höhere Infektionsgefahr mit sich bringen.
Wirkt sich Bewegung auf die Prognose bei Krebserkrankungen aus?
Fr. Beller: Gerade bei Kindern und Jugendlichen gibt es dazu zu wenige Studien. Wir haben aber erste Hinweise, hauptsächlich aus dem Erwachsenenbereich, dass Sport während einer Krebserkrankung beispielsweise den Effekt der Chemotherapie unterstützt und Nebenwirkungen lindert. Auch gibt es Indizien für eine verbesserte Immunfunktion, kardiorespiratorische Fitness, Knochengesundheit und geringere Fatigue. Die funktionale Mobilität fällt besser aus und die Zeit im Krankenhaus wird verkürzt. Unabhängig davon sind Kinder, die sich bewegen, meiner Erfahrung nach motivierter, besser gelaunt und können so auch Positives mit dem Krankenhaus verbinden.
Wie oft bringen Sie junge Erkrankte auf Station in Schwung?
Fr. Beller: Unser Team am UK Essen ist jeden Wochentag auf verschiedenen Stationen aktiv. Neben der normalen onkologischen Kinderstation sind wir auf der AYA(Adolescents and Young Adults)-Station, welche speziell für Jugendliche und junge Erwachsene eingerichtet wurde, auf der Station für Stammzelltransplantation und in der Ambulanz tätig. Auch Online-Sport bieten wir teilweise an. Wir suchen außer der Onkologie auch die Nephrologie auf und betreuen Kinder und Jugendliche während der Dialyse.
Das Angebot bleibt selbstverständlich freiwillig, wird aber meist bereitwillig angenommen. Dies hängt davon ab, wie es den Patient:innen geht und welche Termine sie außerdem haben. Viele nehmen zwei- bis dreimal pro Woche an einer Sporteinheit teil.
Wie reagieren die Eltern auf das Angebot?
Fr. Beller: Generell zeigen sie sich unterstützend und dankbar, dass wir die Kinder und Jugendlichen in ihrem Selbstbewusstsein bestärken, sie ein wenig Normalität fühlen lassen und sie aus dem Bett locken. Die Bewegungseinheiten finden entweder mit den Erkrankten alleine statt oder die Eltern sind dabei – gerade zu Beginn. Oft schauen sie zu, manchmal nutzen sie aber auch die Zeit für sich, um neue Kräfte zu sammeln.
Welche Arten von Aktivitäten bieten sie stationär an?
Fr. Beller: Die Inhalte der Bewegungseinheiten sind individuell, alters- und intensitätsangepasst. Die Älteren machen beispielsweise Krafttraining an Geräten. Für Kinder bauen wir etwa Parcours auf dem Flur mit Flusssteinen auf, fahren mit Rollbrettern oder bieten appgestützte Balanceübungen an. Hinzu kommen Tischtennis, Wurfspiele, Ergometertraining oder sogar Fußball.
Je nach Interesse der Betroffenen suchen wir oft gemeinsam die Bewegungsspiele aus und geben den Kindern Entscheidungsspielräume, die sie sonst im Krankenhaus selten haben. Dabei versuchen wir, Elemente ihrer Lieblingssportarten zu integrieren. Wenn jemand vorher Tennis gespielt hat, bieten wir Rückschlagspiele an. Darüber hinaus hängen die Inhalte natürlich vom Gesundheitszustand ab, lassen sich aber zum Teil auch liegend im Bett realisieren.
Gibt es absolute Kontraindikationen für jede physische Aktivität?
Fr. Beller: Nein, wir nutzen lieber den Begriff „relative Kontraindikationen“. Natürlich müssen wir beachten, ob ein Kind zum Beispiel fiebert, wie die Blutwerte aussehen, ob ein Bestrahlungsfeld geschont werden muss oder ein Frakturrisiko besteht. Daran kann man die Belastung individuell anpassen. So würden wir mehr mit dem Oberkörper und den Armen arbeiten, wenn eine Frakturgefährdung am Bein vorliegt.
Manchmal bieten wir eine Fantasiereise oder kleine Bewegungsgeschichten im Bett an. Es gibt also keine Mindestfitness für die Teilnahme an unserem Sport- und Bewegungsprogramm.
Welche Bewegungsanreize kann das Klinikpersonal selbst setzen?
Fr. Beller: Die Ermutigung zu kleinen Alltagsbewegungen hilft, die Patient:innen zu mobilisieren. Darunter fällt die Einnahme der Mahlzeiten außerhalb des Bettes, sich selbst anzuziehen, im Stand zu duschen oder der Gang zur Toilette anstatt Bettpfannen oder -flaschen. Das medizinische Personal könnte die Kinder und Jugendlichen auch aktiv dazu anhalten, eine Runde über den Flur zu laufen, oder ihnen etwa einen Luftballon als Bewegungsanreiz geben. Gut wären des Weiteren längere Kabel am Infusiomaten, um einen größeren Bewegungsradius zu schaffen.
Wie fördern Sie nach dem Klinikaufenthalt körperliche Aktivität?
Fr. Beller: Wir arbeiten vom Uniklinikum Essen aus eng mit dem Zentrum Ruhr des Netzwerks ActiveOncoKids zusammen, das in Kooperation mit der Sportfakultät der Ruhr-Universität Bochum entstand. Es gibt viele Schnuppertage mit Angeboten wie Windsurfen, Klettern, Stand-up-Paddeln oder Eislaufen. Wir bieten auch zweimal im Jahr Skifreizeiten an. Weiterhin gibt es eine Sportgruppe, die sich wöchentlich trifft und in der sich die Kinder in Bewegungslandschaften und kleinen Sportspielen erproben können.
Bei den Sportangeboten handelt es sich vorrangig um Individualsportarten, um den Wettkampfcharakter auszuschließen. Manche Kinder und Jugendliche haben nach der Genesung Sorge, dass sie nicht mit Gleichaltrigen mithalten können, und benötigen zunächst ein geschütztes Setting. Hinzu kommen individuelle Einschränkungen wie Ataxien oder Endoprothesen, die möglicherweise einen Wiedereinstieg in ihre ursprüngliche Sportart verhindern. Mit den Angeboten wollen wir die Teilnehmenden motivieren, neue Sportarten auszuprobieren, oder allgemein erst mal die Angst vor Bewegung (wieder) zu verlieren. Sie dürfen zu den Aktivitäten auch einen Sportbuddy wie Freund:innen oder Geschwister mitbringen. Außerdem bieten wir kostenfreie Sportberatungen und Unterstützung beispielsweise für die Rückkehr in den Schulsport an. Dieses Angebot steht allen Kindern und Jugendlichen in Deutschland zur Verfügung.
Was wünschen Sie sich in Ihrem Feld für die Zukunft?
Fr. Beller: Ich wünsche mir eine bewegungstherapeutische Regelversorgung, die von den Krankenkassen bezahlt wird. Die meisten Kolleg:innen in unserem Bereich werden durch Drittmittel und Spenden finanziert und fast alle Bewegungsexpert:innen in der Kinderonkologie sind befristet angestellt. Von solchen Angeboten könnten übrigens sämtliche Kinder und Jugendliche mit chronischen Erkrankungen profitieren, nicht nur im onkologischen Bereich.
Interview: Lara Sommer