Überdiagnosen sind unvermeidlich
Bevor sie die Praxis betrat, galt die 48-Jährige noch als gesund. Mit einem Body-Mass-Index von 30 wies sie zwar nicht unbedingt Idealgewicht auf. Zumindest aber fühlte sie sich nicht krank. Angesichts ihrer diabeteskranken Mutter entschied sich der Arzt trotzdem zum HbA1c-Test.
Das hatte Folgen: Als die Frau die Praxis wieder verließ, galt sie als potenziell krank. Mit einem diagnostizierten Prä-Diabetes riet der Arzt ihr nicht nur zu Sport und einer Diät, sondern auch zu einer Pharmakotherapie: Metformin sollte das Fortschreiten in die Zuckerkrankheit vermeiden.
Ob das der Frau wirklich geholfen hat? Die New Yorker Internistinnen Dr. Minal S. Kale von der Mount Sinai Icahn School of Medicine und Dr. Deborah Korenstein vom Memorial Sloan Kettering Cancer Center haben ihre Zweifel. In dem geschilderten Fall müsse der festgestellte Prä-Diabetes wahrscheinlich als Überdiagnose gelten, schreiben die beiden New Yorker Ärztinnen. Denn schließlich habe die Metaanalyse mehrerer Beobachtungsstudien gezeigt, dass über 50 % der Prä-Diabetiker in den folgenden zehn Jahren keine Zuckerkrankheit entwickeln.
Man leugnet das Offensichtliche
Und laut Definition liegt eine Überdiagnose dann vor, wenn der Arzt einen krankhaften Zustand feststellt, die vermeintliche Krankheit aber für den Patienten Zeit seines Lebens keinen gesundheitlichen Schaden zur Folge haben wird.
Wie Dr. Kale und Dr. Korenstein ausführen, ist auch die Diagnose von nicht-onkologischen Krankheiten wie Bluthochdruck, Hyperlipidämie, Niereninsuffizienz oder Aortenaneurysma durchaus mit solchen Irrtümern verbunden: „Überdiagnosen sind der Elefant im Untersuchungsraum“, so die beiden Autorinnen – eine Metapher, die im Englischen beschreibt, dass man das Offensichtliche leugnet. „Denn weil kein Test perfekt ist und jede Krankheit ein Spektrum verschiedener Ausprägungen hat, sind Überdiagnosen unvermeidlich.“ Dies gelte insbesondere für eine Medizin, die Krankheiten immer früher zu erkennen und zu behandeln versucht.
Es gibt noch andere Faktoren, die zum Problem beitragen. Ausgeweitete Krankheitsdefinitionen beispielsweise: Dank des Begriffs Prä-Diabetes wird inzwischen schon bei Laborwerten Alarm geschlagen, die früher noch als unbedenklich galten. Ungeachtet der Tatsache, dass sich das Risiko des Voranschreitens in die Zuckerkrankheit mit den verschiedenen diagnostischen Tests und in unterschiedlichen Populationen nur sehr unzuverlässig ermitteln lässt.
Ein anderes Beispiel: Der technologische Fortschritt hat dazu geführt, dass in der Thorax-Computertomographie immer kleinere Läsionen auffallen – was allein bei den Lungenembolien zu einer Verdoppelung der Diagnosenzahl innerhalb von fünf Jahren geführt hat. Auch öffentliche Screeningprogramme treiben die Entwicklung weiter an, ebenso falsche finanzielle Anreize, mangelndes Wissen, Selbstüberschätzung der Mediziner und die Erwartungshaltung der Patienten selbst. Was also tun? Zunächst einmal, schreiben die beiden Autorinnen, sei es wichtig, das Problem in seinen Ausmaßen besser zu erfassen.
Therapie ohne Nutzen
Definitionen präzisieren und seltener überweisen
Entsprechende Studien sind bisher Mangelware. Zudem sollte sich die Ärzteschaft bemühen, Krankheitsdefinitionen genauer zu fassen. Auch die Hausärzte könnten ihren Teil zur Lösung beitragen. Etwa indem sie ihr Bewusstsein für Überdiagnosen schärfen, ihre Patienten besser informieren und zurückhaltender mit Überweisungen und invasiven Behandlungen werden. Letztendlich, schreiben Dr. Kale und Dr. Korenstein, könne man nicht sagen, ob die eingangs erwähnte Patientin nicht doch von der Diagnose Prä-Diabetes profitiert. Nicht jeder Einzelfall entwickelt sich schließlich, wie es die Evidenz prophezeit. Das wirkliche Problem sei auch ein anderes: Dass sich wahrscheinlich weder Arzt noch Patientin der Gefahr einer Überdiagnose bewusst waren.Quelle: Kale MS, Korenstein D. BMJ 2018; 362: k2820