Interview „Geht nicht? Gibt‘s nicht!“
Frau Thurm, was ist eigentlich Ihre liebste Sportart?
Thurm: Ich bin Marathonläuferin, Rettungstaucherin, war lange Jahre Fußballerin bis hinauf in die Verbandsliga. Dann habe ich so ein bisschen Tennis gespielt, bin auf Inlinern unterwegs, fahre viel Fahrrad. Wie sich das für Sportstudenten gehört: Man macht alles so ein bisschen und nichts so richtig. Für den Profi-Bereich hat es bei mir nicht gereicht. Aber alles, was mit Bewegung zu tun hat, kann mich begeistern. Natürlich mache ich am liebsten selbst Sport, aber ich begleite auch Sportlerinnen und Sportler, z.B. aus dem Telemedizin-Projekt Challenge D. Und wenn dann Timur Oruz in der Hockey-Nationalmannschaft spielt oder die Fußballerin Sandra Starke am Ende der Saison als Double-Siegerin gefeiert wird, schaue ich auch gerne mal zu.
1985, gegen Ende Ihres Sportstudiums, bekamen Sie die Diagnose Typ-1-Diabetes. Wie war das damals?
Thurm: Ich habe irgendwann 10,12 Liter am Tag getrunken, habe viel Gewicht verloren und gemerkt, dass meine sportliche Leistung trotz Intensivierung des Trainings immer schlechter wurde. Ich bin zum Arzt, bekam die Diagnose, und meine erste Frage war natürlich: Kann ich weiterhin Sport machen? Das wurde damals bedingt bejaht, im moderaten Umfang ginge das auf jeden Fall … Das war für mich der Anlass, zu sagen: Geht nicht? Gibt’s nicht! Ich habe mich sehr reingekniet, auch beruflich, habe meine Staatsexamensarbeit zu dem Thema geschrieben. Und dann ist es uns im Lauf der Jahre gelungen, ein paar Verbote zu kippen, z.B. mit unserer Studie in Papua-Neuguinea das weltweite Tauchverbot für Menschen mit Typ-1-Diabetes. Auch auf der Vincent-Pyramide, auf über 4.000 Metern, haben wir eine Studie gemacht und geschaut, wie in der großen Höhe und bei niedrigen Temperaturen Blutzuckermessgeräte funktionieren. So konnten wir zeigen: Mit der richtigen Einstellung kann ein Mensch mit Typ-1-Diabetes jeden Sport machen, und zwar in der Dauer, Intensität und auf dem Leistungsniveau, wie er das eben möchte.
Sie sprechen von „uns“ – wer sind Ihre Mitstreiter*innen?
Thurm: Im Jahr 1990 habe ich ja die deutsche Sektion der IDAA, also der International Diabetic Athletes Association, gegründet, und darüber habe ich schnell sehr viele Mitstreiter und Mitstreiterinnen gefunden.
Nach Ihrem Abschluss konnten Sie aber nicht als Sportlehrerin arbeiten …
Thurm: Nein, das ging damals nicht, und deshalb habe ich umgeswitcht. Meine Staatsexamensarbeit über Sport und Diabetes wurde 1987 auf dem DDG-Kongress in Aachen ausgestellt. Dort habe ich Professor Berger aus Düsseldorf getroffen, der weltweit Vorreiter war im Bereich Diabetes und Sport. Er hat mich gefragt, ob ich nicht Lust hätte, bei ihm in der Abteilung zu arbeiten – und ich habe zugesagt. Ich habe dann noch die Ausbildung zur Krankenschwester und zur Diabetesberaterin gemacht. Ich war damals einfach zur richtigen Zeit am richtigen Ort und habe mit Professor Berger den richtigen Menschen getroffen, der es mir ermöglicht hat, diese Projekte durchzuführen und damit ganz vielen Sportlerinnen und Sportlern den Weg zu ebnen. Die Schulung hat eine große Rolle gespielt, und es hat sich gezeigt: Wenn man Sportlerinnen und Sportler entsprechend schult, sind ihnen keine Grenzen gesetzt, bis hin zum Leistungs- und zum Profisport.
Was raten Sie Menschen, die Typ-1-Diabetes haben und intensiv Sport treiben möchten?
Thurm: Da gibt es keine pauschalen Tipps. Beim Fußball gibt es wechselnde Kraft-Ausdauer-Belastungen, beim Tennis ist nicht klar, wie lange ein Match dauern wird … Ironman-Athleten und Profi-Golfer brauchen wieder ganz andere Tipps. Man muss sich die Therapie ganz individuell anschauen und auch beachten, welche Art und Menge an Kohlenhydraten erforderlich sind. Deswegen haben wir auch das Projekt Challenge D ins Leben gerufen, wo wir mit der Charité und Professor Moser vom Institut für Sportwissenschaft an der Universität Bayreuth die Profi-Sportlerinnen und -Sportler mitbetreuen und die Einstellung optimal an die jeweiligen Trainingsgegebenheiten und Wettkämpfe anpassen. Das zu erreichen, ist immer Teamarbeit. Dabei gibt man ganz viel, bekommt von den Sportlern aber auch ganz viel zurück – und das ist einfach wunderschön.
Wie gehen Sportlerinnen und Sportler grundsätzlich mit der Herausforderung Typ-1-Diabetes um?
Thurm: Ich denke, dass wir Sportler und Sportlerinnen es vielleicht manchmal ein bisschen leichter haben, mit dem Typ-1-Diabetes umzugehen. Jeder, der im Sport auf einem gewissen Leistungsniveau unterwegs ist, ist extrem diszipliniert, extrem strukturiert. Das ist eine sehr gute Voraussetzung dafür, mit dem Typ-1-Diabetes gut zurechtzukommen. Sportlerinnen und Sportler, die wirklich erfolgreich sein wollen, wissen, dass ihr Körper ihr Kapital ist. Es hat für sie allerhöchste Priorität, ihre Diabetes-einstellung so zu optimieren, dass sie Erfolg haben können. Und mit einer wirklich sehr guten Diabeteseinstellung kann man noch einmal ein paar Prozent mehr an Leistung herauskitzeln, das zeigen auch die Studien von Professor Moser.
Was war seit Ihrer Diagnose 1985 der größte Fortschritt in der Diabetes-Technologie?
Thurm: Die kontinuierlichen Glukosemesssysteme. Das ist wirklich die Revolution in der Diabetologie, agerade auch beim Sport. Ein kurzer Blick auf das CGM-Display oder auf die Uhr genügt, danach kann man die Therapie punktgenau anpassen. Es ist möglich, Sportprofile einzustellen, und damit in Wettkampfsituationen weitgehend zu hohe und zu niedrige Werte vermeiden und sich einfach komplett auf den Wettkampf zu konzentrieren … Das ist wirklich eine so unglaubliche Verbesserung der Lebensqualität – das ist Wahnsinn!
Wie könnte das Leben mit Diabetes noch mehr erleichtert werden?
Thurm: Ich denke, es ist es ganz entscheidend – und damit schließt sich der Kreis zu Professor Berger – dass Menschen für diese Systeme eine entsprechende Schulung bekommen. Es reicht nicht, das Gerät anzulegen, sondern man muss auch wissen, wie man aufgrund der Information, die einem das CGM-System liefert, die Therapie anpassen kann. Da braucht es wirklich sehr viel individualisierte Schulung. Aber: Die Praxen können die Schulung mit dem CGM-Schulungsprogramm Spectrum noch nicht abrechnen. Wenn die Praxen die Möglichkeit hätten, diese zeitaufwendige Schulung abzurechnen, wäre das sehr hilfreich.
Im August haben Sie für Ihr Engagement im Bereich „Diabetes und Sport“ das Bundesverdienstkreuz bekommen. Was bedeutet Ihnen diese Auszeichnung?
Thurm: Das ist für mich eine unglaubliche Ehrung und eine Auszeichnung für die Betreuung von Sportlern und Sportlerinnen mit Typ-1-Diabetes. Für die CGM- und Insulinpumpenfibel haben Dr. Bernhard Gehr und ich den Heinrich-Sauer-Preis bekommen, und auf der Diabetes-Charity-Gala im letzten Jahr wurde Challenge D als Spendenprojekt ausgewählt. Das waren schon herausragende Ehrungen und Würdigungen. Aber wenn dann da mit Ulrike Grothe eine Senatorin steht und sagt: Die Bundesrepublik Deutschland bedankt sich bei Ihnen für Ihre Verdienste für Volk und Vaterland – das ist noch einmal etwas ganz anderes. Da war ich – und das bin ich selten – erst einmal wirklich sprachlos und musste ein paar Mal schlucken. Das ist ein Moment und das sind Sätze, die ich nie in meinem Leben vergessen werde. Aber die Ehrung gebührt natürlich nicht nur mir, sondern dem gesamten Team. Das ist an erster Stelle Professor Othmar Moser mit seinem Team, natürlich auch das Team der Charité – und am allerallerwichtigsten die Sportlerinnen und Sportler mit Typ-1-Diabetes. Ohne deren Leidenschaft, ohne deren Ausdauer, Begeisterungsfähigkeit, Teamfähigkeit, Unterstützung hätte ich diese Auszeichnung nie erhalten. Ich bin absoluter Mannschafts- und Teamsportler, und eine solche Leistung kann immer nur ein Team vollbringen.
Welche Reaktionen haben Sie bekommen? Und wo bewahren Sie das Bundesverdienstkreuz auf?
Thurm: Es kamem extrem viele extrem positive Reaktionen. Die Wertschätzung, die mir von hochrangigen Diabetologinnen und Diabetologen, von Kolleginnen aus dem Diabetesberaterinnen-Bereich und von unzähligen Patientinnen und Patienten und der ganzen Community entgegengebracht wurde, war unglaublich. Noch hat das Bundesverdienstkreuz keinen festen Platz. Manchmal nehme ich es mit zu Veranstaltungen, weil doch viele es einmal anschauen möchten. Aber es wird definitiv einen schönen Platz bekommen!