„I run on insulin“: Diabetische Sportler auf dem Spreewald-Marathon
„Mensch Antje, warum hast du denn kein IDAA-Shirt an? Ich hätte dich ja fast nicht erkannt im Vorbeiradeln!“ Ulrike Thurm, Vorsitzende der IDAA, springt vom Fahrrad und begrüßt mich. Ich habe etwa die Hälfte meines Halbmarathons im Spreewald hinter mir, und leider läuft es nicht ganz so gut, wie ich es mir vorgestellt hatte. „Brauchst du ein Gel? Cola? Gummibärchen?“, fragt Ulrike und zaubert aus ihren Taschen in Nullkommanix Unmengen an Hypohelfern hervor.
Tatsächlich bin ich froh, meine Vorräte auf diese Weise auffüllen zu können. Denn leider kennt mein Blutzucker heute nur eine Richtung: nach unten. Obwohl ich mit einem Wert von 190 mg/dl gestartet bin und damit eigentlich genug Reserve für mindestens sieben Laufkilometer haben müsste, war es schon eine Viertelstunde nach dem Start Zeit für das erste Sportgel. Und weil mein Glukosewert partout nicht über 104 mg/dl steigen will, habe ich nach sechs Kilometern bereits beide Gels aus meinem Sportgürtel verdrückt. Gut, dass ich unterwegs Ulrike treffe.
Vom Mini-Gurkenlauf für Kinder bis zum ganzen Marathon
Doch unsere Vereins-Chefin hat es eilig. Sie muss rechtzeitig zur IDAA-Vorstandssitzung im Hotel sein; für den Nachmittag ist die jährliche Mitgliederversammlung angesetzt. Weil reine Vereinsmeierei vermutlich keinen sportbegeisterten Typ-Einser zu Reisen quer durch die Republik bewegen würde, finden diese Versammlungen parallel zu attraktiven sportlichen Ereignissen statt.
Der Spreewald jedenfalls lockt an diesem Aprilwochenende mit einer langen Liste toller Sportveranstaltungen. Bereits seit 2003 organisiert hier ein Verein jedes Jahr mit dem Spreewald-Marathon ein riesiges Breitensport-Event, zu dem etwa 12 000 Teilnehmende aus allen Himmelsrichtungen ins südöstliche Brandenburg anreisen. Von Donnerstag bis Sonntag reiht sich ein Wettkampf an den anderen: Vom Mini-Gurkenlauf für Kinder bis zum ganzen Marathon ist für jede Leistungsklasse ein passender Lauf dabei. Außerdem gibt es verschiedene Radausfahrten, Walking- und Wandertouren, Skating-Events sowie Paddeltouren durch das weit verzweigte Gewässernetz des Spreewalds.
120 g Kohlenhydrate – Sportgels, Gummibärchen & Isogetränke
Ich habe mich für den Halbmarathon durch das Biosphärenreservat entschieden, weil dieser ein besonders beeindruckendes Naturerlebnis versprach. Und ich werde nicht enttäuscht: Wir traben an kleinen Bachläufen entlang, über unzählige Brücken, durch verwunschene Waldabschnitte und über holprige Feldwege, an deren Rand ganze Frosch-Orchester ein ohrenbetäubendes Konzert veranstalten. Am liebsten würde ich gar nicht laufen, sondern gemächlich durch die Natur spazieren und an jeder Ecke Fotos schießen.
Es ist dann aber nicht die Freude an der Natur, sondern mein Diabetes, der mich bei diesem Lauf bremst und mir etliche Gehpausen aufzwingt. Ich ahne, woran die Talfahrt meiner Glukosekurve liegt: In unserem Hotel gab es vor 7 Uhr nichts zu essen, also ist beim Laufstart um 10 Uhr noch ein Rest vom bereits reduzierten Insulinbolus für mein Frühstück aktiv. Und dieser Rest hat es wirklich in sich: Im Verlauf der gut 2 Stunden und 50 Minuten, die ich dieses Mal für den Halbmarathon brauche, nehme ich mindestens 120 g Kohlenhydrate zu mir – in Form von Sportgels und Gummibärchen, Isogetränken und Eistee an den Verpflegungsstellen sowie alkoholfreiem Bier im Ziel. Dort gibt es zum Glück auch herzhafte Spreewaldgurken und Schmalzbrote – was für eine Wohltat nach all dem Zucker während des Laufs!
Im Ziel warten mein Mann und andere IDAA-Mitglieder auf mich, die bereits vor einer Weile im Ziel angekommen sind. „Wie war der Lauf?“, fragen sie, und natürlich auch: „Wie hat sich dein Zucker benommen?“ Wir fachsimpeln über unser Glukosemanagement – und kommen am Ende achselzuckend zu dem Schluss: „So ist es eben mit dem Diabetes. Heute so, morgen ganz anders.“ Es tut mir gut zu wissen, dass ich mit Erlebnissen wie diesem nicht allein bin. Und natürlich bin ich froh, dass wir IDAA-Mitglieder bei Wettkämpfen ein wenig aufeinander achtgeben. Ich hätte den Halbmarathon zwar sicherlich auch ohne Ulrikes Zuckerspende unversehrt überstanden. Schließlich waren die Verpflegungsstellen mehr als üppig ausgestattet. Doch es läuft sich immer ein wenig unbeschwerter, wenn auch die eigenen Taschen mit einer ausreichenden Menge Notreserven gefüllt sind.
Einen Tag später, am Sonntag, stehen mein Mann Christoph und ich dann auf der anderen Seite der Wettkampf-Absperrung und feuern unsere Freunde an. Sie sind für verschiedene Lauf-, Walking- und Skating-Strecken am Start. Ihre Sportshirts in unseren Vereinsfarben Orange und Blau sind schon von Weitem gut zu erkennen. Nach und nach trudeln alle im Ziel ein. Nun sind wir an der Reihe zu fragen.
„I run on Insulin“ in orange-blau auf dem Rücken
Eine Läuferin hatte die gesamte Strecke hinter sich gebracht, ohne ein einziges Mal ihre Glukosewerte scannen zu können. Kurz vor dem Start hatte die App Server-Probleme gemeldet und ließ sich nicht mehr benutzen. „Hat mal jemand einen Teststreifen für mich?“, ruft sie im Zielbereich und steuert die Menschengruppe in orange-blauer Kleidung an. Natürlich kann sie sofort ihren Zucker messen: „230 mg/dl. Okay, das hätte auch schlimmer ausgehen können – ich habe nämlich vor dem Start vorsorglich noch ein Gel genommen, damit ich während des Laufs auf gar keinen Fall unterzuckere.“
Beim nächsten sportlichen Ereignis, an dem ich für die IDAA teilnehme, wird man auch mich an meinen Vereinsfarben leicht ausmachen können. Denn obwohl sich in meinem Kleiderschrank bereits Unmengen an Funktionsshirts stapeln, habe ich mir an diesem Wochenende endlich auch ein orange-blaues Laufshirt gekauft. Auf der Brust das IDAA-Logo und auf dem Rücken der Schriftzug: „I run on insulin“.