Heimleben „Und plötzlich nur noch ein Taschengeld“
Im Jahr 2021 erhielten 793.461 Menschen, die in einer Einrichtung der stationären Langzeitpflege untergebracht waren, Leistungen der gesetzlichen Pflegeversicherung. Hinter dieser nüchternen Zahl verbergen sich viele Einzelschicksale, schreibt Prof. Dr. Stefanie Richter von der Fakultät für Angewandte Sozial- und Gesundheitswissenschaften der Ostbayerischen Technischen Hochschule in Regensburg.
In 35 autobiografisch-narrativen Interviews hat sich die Wissenschaftlerin mit Menschen im Alter zwischen 57 und 94 Jahren unterhalten. Die Befragten lebten in unterschiedlichen Lebens- und Wohnverhältnissen in Ost- und Westdeutschland, jeder von ihnen hatte zumindest ein dauerhaftes Gesundheitsproblem. Bei vielen hatte der Umzug in ein Pflegeheim oder eine Seniorenresidenz, das Leben dort und die damit verbundenen finanziellen Abhängigkeiten zu Depressionen, Unsicherheiten und Armut geführt.
Wenig Spielraum für Dinge des täglichen Bedarfs
Mehr als jeder dritte Bewohner eines deutschen Pflegeheims, berichtet die Autorin, ist auf Sozialhilfe angewiesen. Das bedeutet, dass das Vermögen der Betroffenen nicht ausreicht, um die anfallenden Kosten zu decken. Spielraum, um sich Dinge des täglichen Bedarfs zu leisten, ist damit kaum vorhanden.
Viele der Betroffenen hadern mit dieser Situation, so Prof. Richter. Weil ihnen die Zukunft als kaum kalkulierbar erscheint, fühlen sich diese Menschen sehr unsicher. Maßgeblich tragen dazu finanzielle Sorgen bei. Ein weiterer Belastungsfaktor ist bei jedem Dritten, dass die Übersiedlung ins Heim ungeplant stattfindet. 2005 kamen 37 % der neuen Heimbewohner direkt vom Krankenhaus in ihre neue Wohnstätte.
Die Zukunft erscheint als kaum kalkulierbar
Bedroht, unsicher, sogar verängstigt fühlen sich manchmal selbst diejenigen, die sich eigentlich finanziell gut aufs Alter vorbereitet wähnten, beschreibt die Autorin. Ein solcher Fall ist Frau Baldauf, eine von Prof. Richters Gesprächspartnerinnen. Nach dem Tod ihres Mannes fühlte sie sich dank Witwenrente und Ersparnissen für die kommenden Jahre gut gerüstet. Deshalb wählte sie mit einem Appartement in einer Residenz inklusive Reinigung und Mittagessen eine vergleichsweise komfortable Lösung als Unterbringung.
Doch dann erlebte sie anhaltende Kostensteigerungen und hatte zunehmend das Gefühl, ihr Leben in der Residenz nur mit Schwierigkeiten finanzieren zu können. „Jede Hilfe muss ich extra bezahlen“, zitiert die Autorin die alte Dame. Frau Baldauf geizt deshalb bei jeder Ausgabe, die sie für vermeidbar hält. Dazu gehören das gemeinsame Abendessen mit den Mitbewohnern oder Veranstaltungen. Sogar Arztbesuche streicht sie manchmal wegen des teuren Begleitdienstes. In der Folge kommt es bei der Seniorin zu sozialem Rückzug, Niedergeschlagenheit und Depressionen. Zudem erzählt Frau Baldauf, eine „Wahnsinnsangst“ zu haben, irgendwann in ein Pflegeheim zu müssen.
37 % kommen direkt vom Krankenhaus in ihre neue Wohnstätte
Die 89-jährige Heimbewohnerin Frau Walther, eine weitere Interviewpartnerin, ist im Heim auf Sozialhilfe angewiesen. Sie muss erleben, dass sie sich nicht einmal mehr das Nötigste für die Körperpflege und ihr persönliches Wohlbefinden leisten kann. Sie kriege nur noch ein Taschengeld, erzählt sie. Das Heim stelle den Bewohnern lediglich Seife zur Verfügung, Haarwaschmittel und Körperlotion müsse sie selbst bezahlen.
Prof. Richter nennt das Grundgefühl, dass sie bei vielen ihrer Gesprächspartner festgestellt hat, erlebte Zukunftsunsicherheit. Neben den finanziellen Sorgen tragen zu diesem belastenden Gefühl auch Faktoren wie die Ungewissheit über die noch verbleibende Lebenszeit und künftige weitere Gesundheitsprobleme bei, so die Autorin. Auch individuelle biografische und soziale Hintergründe befördern diese Ängste.
Verlust von Lebensgestaltung,Autonomie und Teilhabe
Die erlebte Zukunftsunsicherheit, drohende Armut oder die Abhängigkeit von Sozialhilfe können pflege- und institutionell bedingte Verlusterfahrungen von Autonomie, Teilhabe und Lebensgestaltung verschärfen, schreibt Prof. Richter abschließend. Der Gesamtzustand der Betroffenen werde so weiter destabilisiert. Die Zuweisung von Taschengeld sei dabei symbolisch für die Asymmetrien und Abhängigkeiten, wie man sie in den deutschen Seniorenheimen regelmäßig vorfinde, zu sehen. Die strukturellen Probleme in den Seniorenheimen und im Sozialsystem würden so individualisiert.
Quelle: Richter S. Z Gerontol Geriat 2023; DOI: 10.1007/s00391-023-02231-x