In Seniorenheimen breitet sich das Coronavirus oft unbemerkt aus
Rund 416 000 Menschen leben in Großbritannien in einem Altenheim, in den USA sind es sogar 1,3 Millionen. Mehr als jede zehnte US-amerikanische Pflegeeinrichtung für Senioren hat inzwischen COVID-19-Fälle gemeldet. Dr. Neil Graham vom Demenzforschungszentrum am Imperial College London hat nun zusammen mit Kollegen den Ausbruch in vier Pflegestätten in der britischen Hauptstadt genutzt, um solche lokalen Epidemien genauer zu erforschen. Zweimal innerhalb von zwei Wochen wurde bei den 394 Bewohnern ein PCR-Test gemacht. Demselben Verfahren unterzogen sich 70 symptomfreie Mitarbeiter. Bei 40 % der Bewohner und 4 % der Pflegekräfte wurde das Virus gefunden. Dabei waren große Teile des Personals bereits ausgefallen, weil sie sich freiwillig unter Quarantäne gestellt hatten.
Mortalitätsrate dreimal höher als in Vorjahren
Gleichzeitig waren zwischen März und Mai unter den Senioren 103 Sterbefälle zu beklagen. Damit war die Mortalitätsrate dreimal höher als in den vorigen Jahren. Nur auf der Hälfte der Todesbescheinigungen fand sich jedoch die Diagnose COVID-19 – ein Wert, den die Autoren als deutlich zu niedrig einstufen.
Die Wissenschaftler versuchten zudem, mit Genanalysen die Verbreitung des Erregers nachzuvollziehen. Die Ergebnisse sprechen dafür, dass das Virus gleich mehrfach eingeschleppt wurde, schreiben sie. Infizierte Angestellte haben hierbei wahrscheinlich eine entscheidende Rolle gespielt – ebenso wie bei der Ausbreitung innerhalb der Heime.
Was Dr. Graham und sein Team besonders nachdenklich macht: 60 % der Corona-Positiven wiesen keine oder keine COVID-19-typischen Symptome auf. Selbst im fortgeschrittenen Stadium war von Fieber und Husten bei vielen nichts zu bemerken.
Typische Symptome wie Husten auch ohne Corona vorhanden
Dieses Ergebnis deckt sich weitestgehend mit einer älteren Untersuchung von einem Ausbruch in einem US-amerikanischen Altenheim (MT berichtete).1 Dort hatten sich bereits im März 48 der 76 Bewohner angesteckt. Auch hier zeigten 27 keine Krankheitszeichen. Während an der amerikanischen Pazifikküste allerdings 24 im weiteren Verlauf doch noch symptomatisch wurden, war das in London nur bei jedem Zehnten der Fall.
Die Ursache vermuten die Autoren darin, dass ihre Studie erst 21 Tage nach Entdeckung des ersten positiven Falls gestartet wurde, viel später als die der Amerikaner. Womöglich hätten viele ihrer scheinbar unauffälligen Patienten das symptomatische Stadium bereits hinter sich gehabt, vermuten sie. Was die Entdeckung der Krankheit seiner Meinung nach gerade in Altenheimen zudem schwierig macht: Typische Symptome wie Husten oder Atemnot seien bei vielen Bewohnern auch ohne SARS-CoV-2 vorhanden gewesen.
Die wichtigste Konsequenz lautet für das Team deshalb: Die bisherige Strategie, nur symptomatische Seniorenheim-Bewohner und -Angestellte auf das Virus zu testen, muss als überholt gelten. „Unsere Daten sprechen dafür, diese Gruppen häufig und regelmäßig auf das Virus zu untersuchen“, heißt es. Solange es weder wirksame Medikamente noch Impfungen gebe, sei das die erfolgversprechendste Strategie, um Menschenleben zu retten. Zudem empfehlen die Kollegen Pflegekräften, mehr Wert auf gute Schutzausrüstung zu legen.
Quellen:
Graham NSN et al. J Infect 2020; DOI: 10.1016/j.jinf.2020.05.073
1. Arons MM et al. N Engl J Med 2020; 382: 2081-2090; DOI: 10.1056/NEJMoa2008457