Wie sinnvoll sind Schulschließungen in der Coronapandemie?

Autor: Dr. Angelika Bischoff / Dr. Elke Ruchalla

Der vermutete Schutzeffekt der Schulschließungen beruht auf Erfahrungen mit der Grippe – doch SARS-CoV-2 ist anders. Der vermutete Schutzeffekt der Schulschließungen beruht auf Erfahrungen mit der Grippe – doch SARS-CoV-2 ist anders. © iStock/coscaron

Seit Anfang April haben in 188 Ländern Schulen und Kitas dichtgemacht. Mehr als 1,5 Milliarden Schüler sind von den Maßnahmen betroffen. Experten warnen vor den negativen Folgen der Schließungen. Doch es gibt auch Argumente gegen eine rasche Öffnung.

Die Entscheidung, Schulen in der COVID-19-Pandemie zu schließen, klang logisch. Die Kinder kommen dort nicht mehr in engen Kontakt mit anderen, können sich also nicht mit dem Virus anstecken und es nicht weitergeben. Dieser vermutete Effekt beruht aber vor allem auf Erfahrungen bei Grippeausbrüchen. Influenza und SARS-CoV-2 unterscheiden sich diesbezüglich in einem wichtigen Punkt: Kinder gelten bei Grippe als Schlüsselüberträger. Sie erkranken häufiger als Erwachsene und stecken entsprechend mehr Menschen an, erklären Professor Dr. Russell Viner vom University College London und seine Kollegen.1 Corona-Infektionen dagegen verlaufen nach bisherigem Kenntnisstand bei den Kleinen eher leicht oder asymptomatisch.

Italien beispielsweise hatte Ende März weltweit die zweithöchste Zahl von SARS-CoV-2-Infektionen und die höchste Todesrate. Kinder und Jugendliche unter 18 Jahren machten allerdings nur 1 % der Erkrankten aus. Davon wurden 11 % im Krankenhaus behandelt, kein einziger Minderjähriger starb.

In der CONFIDENCE-­Studie untersuchten Forscher um Dr. Niccolò­ Parri, Ospedale Pediatrico Meyer Firenze, 100 COVID-19-Patienten in Italien.2 Diese waren im Mittel 3,3 Jahre alt. Von den Infektionen gingen 55 % auf eine Quelle außerhalb der Familie zurück – mehr als in anderen untersuchten Kohorten. Dies führen die Autoren auf den relativ späten Lockdown in Italien zurück.

Gemeinsamkeiten mit Kawasaki

Daten des Royal College of Paediatrics and Child Health aus London bestätigen, dass die meisten an COVID-19 erkankten Kinder keine oder schwache Symptome haben. Ein kleiner Teil entwickelt jedoch eine relevante systemische Entzündungsreaktion, die Gemeinsamkeiten mit anderen pädiatrischen inflammatorischen Erkrankungen wie dem Kawasaki-Syndrom zeigt. Sogar wenn der Polymerase-Kettenreaktion-Test auf SARS-CoV-2 negativ ausfällt, müssen Kinder mit persistierendem Fieber, ausgeprägten Inflammationszeichen (Neutrophilie, CRP-Anstieg und Lympho­penie) sowie Organ-Dysfunktion als COVID-19-erkrankt betrachtet und frühzeitig in geeignete fachspezifische Versorgung gebracht werden.

Dr. Angelika Bischoff

Gemäß den Kriterien chinesischer Kollegen waren 21 % der jungen Patienten asymptomatisch, 58 % leicht krank, 19 % mittelschwer und je 1 % waren schwer betroffen bzw. in kritischem Zustand. Unabhängig von der Einstufung wurden 38 % stationär aufgenommen. Der Anteil an mittelschweren bis schweren Erkrankungen fiel grundsätzlich geringer aus als in anderen Kohorten.

Wirkung der Einzelmaßnahme lässt sich schwer abschätzen

Bringt ein Schul- und Kita-Lockdown angesichts dieser Zahlen überhaupt etwas zur Eindämmung der Pandemie? Studien zum Effekt einer solchen Maßnahme hat das Team um Prof. Viner in der Literatur gesucht. Dabei berücksichtigte es frühere Coronaviren-Epidemien durch SARS und MERS ebenso wie aktuelle Daten zu COVID-19. Zusammen kamen 16 Artikel, davon waren neun bereits veröffentlicht. Insgesamt attestierten die Untersuchungen aus China, Hongkong und Singapur den Schulschließungen bei der SARS-Ausbreitung nur einen geringen Nutzen. Die einzige Modellrechnung für die jetzige Pandemie geht von einer Verminderung der Todesfälle um 2 % bis 4 % aus. Allerdings ist es schwer, den Effekt der Einzelmaßnahme abzuschätzen, da in allen Ländern gleichzeitig eine Vielzahl weiterer Gegenmaßnahmen ergriffen wurde, z.B. Abstandsregeln und Ausgangssperren.

„Nebenwirkungen“ geschlossener Schulen

Im Gesundheitswesen fehlen Arbeitskräfte, weil diese sich um den Nachwuchs kümmern müssen. Die Schüler ihrerseits verpassen Lernstoff. Diese Beispiele zählen noch zu den harmlosen Nebeneffekten geschlossener Schulen und Kitas. Wenn Schüler zu Hause bleiben müssen, werden sie aber auch öfter Opfer von häuslicher Gewalt, Vernachlässigung und sexuellem Missbrauch, heißt es in einem redaktionellen Editorial von „The Lancet Child & Adolescent Health“.1 Das habe bereits die Ebola-Epidemie in Westafrika gezeigt. Hinzu kommt u.a., dass nicht wenige Kinder nur in der Schule vernünftige Mahlzeiten bekommen. Kinder und Jugendliche mit psychischen Erkrankungen leiden besonders unter den geschlossenen Schulen, schreibt die Pädiaterin Professor Dr. Joyce­ Lee, University of Michigan,­ in ihrem begleitenden Feature.2 Ihnen fehlt die Unterstützung, die sie durch andere Betroffene und Beratungsgespräche erfahren. Am Telefon oder online darüber zu reden, ist nicht für jeden eine Option. Ebenso entfällt die Struktur, die der Schulbesuch verleiht. Kinder mit Depressionen etwa ziehen sich zu Hause zurück und können nahezu kataton werden. Bei Autismus und verwandten Störungen, bei denen Regelmäßigkeit und Routine eine wichtige Rolle spielen, können erreichte Erfolge hinfällig werden. Bislang ist noch vollkommen unklar, ob und inwieweit diese Beeinträchtigungen reversibel sind, sobald Einrichtungen wieder öffnen.

Dr. Elke Ruchalla

Quellen:
1. Lancet Child Adolesc Health 2020; 4: 341; DOI: 10.1016/S2352-4642(20)30105-X
2. Lee J. A.a.O.; DOI: 10.1016/S2352-4642(20)30109-7

Die aktuellen Schulschließungen waren zudem schon vollzogen, bevor die ersten Untersuchungen dazu begannen, inwieweit Kinder eine Infektionsquelle darstellen. Außerdem lag der Fokus in Europa anfangs auf erwachsenen Reiserückkehrern, die Infektions-Hotspots besucht hatten. Mit epidemiologischen Mitteln wird die Infektionsgefahr, die von Kindern ausgeht, also nicht zu klären sein, schreiben Virologen der Charité – Universitätsmedizin Berlin um Dr. Terry C. Jones und Professor Dr. Christian Drosten in einer vorab veröffentlichten Studie.3 Ein objektives Maß für die Infektiosität ist die Viruskonzentration in den Atemwegen. Für die Bedeutung der Viruslast sprechen mehrere Befunde. Die Berliner Wissenschaftler zeigten, dass bei weniger als 10⁶ Kopien/ml im Rachenabstrich in der Zellkultur das Virus nicht wächst. Außerdem konnten sie bei COVID-19-Patienten keinen Erreger mehr nach der ersten symptomatischen Woche isolieren. Etwa zu diesem Zeitpunkt endet gemäß Transmissionsanalysen auch die Infektiosität.

Die Viruslast ist nicht vom Patientenalter abhängig

Die Virologen haben nun in einer Kohorte von 3712 COVID-19-Patienten die Beziehung zwischen dem Alter und der SARS-CoV-2-Viruslast untersucht. Eine Abhängigkeit konnten sie nicht beobachten. Kinder wiesen keine signifikant unterschiedliche Viruslast im Vergleich zu Erwachsenen auf. Man sollte sie den Autoren zufolge als ebenso infektiös betrachten wie Erwachsene. Zugegeben, asymptomatische Kinder verbreiten das Virus nicht durch Husten und sie haben kleinere Aus­atemvolumina als Erwachsene, schreiben die Forscher. Aber sie bewegen sich mehr und neigen zu engerem sozialen Kontakt, was die Virusausbreitung wiederum begünstigt. Vor diesem Hintergrund warnen sie davor, Schulen und Kindergärten leichtfertig wieder zu öffnen. Als Privatperson sieht Prof. Drosten aber durchaus die Notwendigkeit, den „gesellschaftlich extrem wichtigen Bereich der Kinderbetreuung und Erziehung wiederzubeleben“, wie er kürzlich gegenüber dem Deutschlandfunk sagte.4

Quellen:
1. Viner RM et al. Lancet Child Adolesc Health 2020; 4: 397-404; DOI: 10.1016S2352-4642(20)30095-X
2. Parri N et al. N Engl J Med 2020; DOI: 10.1056/NEJMc2007617
3. Zoonosen Charité
4. Deutschlandfunk