Verdacht auf Cortisolmangel oder -überschuss zur richtigen Uhrzeit abklären
Fall 1:
Eine 67-jährige Frau soll nach einem Sturz operiert werden. Sie nimmt weder regelmäßig Medikamente ein noch leidet sie an Diabetes oder Bluthochdruck. Die Serumbestimmung ergibt eine Gesamt-Cortisolkonzentration von 763 nmol/l. Der Anästhesist lehnt den Eingriff bis zur Klärung des hohen Cortisolwerts ab.
Fall 2:
Ein 24-jähriger Mann mit Typ-1-Diabetes, der bislang gut eingestellt war, stellt sich aufgrund rezidivierender hypoglykämischer Episoden in der Klinik vor. Das um 9 Uhr morgens gemessene Serumcortisol beträgt 143 nmol/l.
Ein Überschuss oder ein Mangel des in der Nebennierenrinde gebildeten Stresshormons Cortisol ist zwar sehr selten, dafür aber potenziell lebensbedrohlich, erklären der Endokrinologe Professor Dr. Fahmy W.F. Hanna vom University Hospital of North Midlands aus Stoke-on-Trent und seine Kollegen. Ursachen für einen Hypercortisolismus können ein Cortisol-sezernierender Tumor, ein Hypophysentumor (Morbus Cushing) oder ein ACTH-sezernierender maligner Tumor sein. Ein Cortisolmangel entsteht infolge einer primären oder sekundären Nebenniereninsuffizienz.
Medikamente und Stress beeinflussen den Messwert
Da Cortisol pulsatil ausgeschüttet wird und die Konzentrationen im Tagesverlauf schwanken, ist die Interpretation der aus Urin-, Serum- oder Speichelproben gewonnenen Testergebnisse oftmals nicht ganz einfach. Zudem können Faktoren wie Stress oder die Einnahme von Medikamenten die Cortisolproduktion beeinflussen.
Eine Messung des Cortisolspiegels ist z.B. bei folgenden Beschwerden und Krankheitsbildern sinnvoll:
- Elektrolytstörungen (Hyponatriämie, Hyper- oder Hypokaliämie)
- Hypotonie (vor allem wenn therapieresistent oder in Verbindung mit Elektrolytstörungen, Gewichtsverlust oder Hyperpigmentierung)
- Hypertonie (vor allem bei jungen Patienten, wenn therapieresistent oder in Verbindung mit Diabetes, Stammfettsucht oder vermehrtem Auftreten von blauen Flecken)
- Gewichtsverlust oder -zunahme
- Müdigkeit, Kraft- und Antriebslosigkeit
- Einnahme von Kortikosteroiden
- Appetitlosigkeit, Salzhunger, gesteigertes Durstgefühl, häufiges Wasserlassen, Schwindel und Erbrechen
- Typ-1-Diabetes mit rezidivierenden hypoglykämischen Episoden
- Schwangerschaft mit anhaltender Übelkeit, Hypotonie und/oder Fatigue n
- gleichzeitiges Vorliegen mehrerer Autoimmunerkrankungen wie Typ-1-Diabetes, Vitiligo, rheumatoide Arthritis
- Hypothyreose in Verbindung mit einer Autoimmunerkrankung
- positive Familienanamnese für Autoimmunerkrankungen
Deutet die Symptomatik auf einen Cortisolüberschuss hin, erfolgt das Initialscreening entweder zwischen 23 und 0 Uhr mittels Serumtest oder per Speichelprobe, 24-h-Urin (freies Cortisol) oder Dexamethason-Suppressionstest.
Bei 150–450 nmol/l Abklärung durch einen Spezialisten
Der Speicheltest erfreut sich immer größerer Beliebtheit – u.a. deshalb, weil er ambulant durchgeführt werden kann. Falls die Hormonwerte auffällig sind, sind weitere Funktionstests durch einen Endokrinologen nötig.
Bei Verdacht auf einen Mangel erfolgt die Messung des Hormons zwischen 8 und 9 Uhr morgens mittels Serumproben. Falls der gemessene Cortisolwert > 450 nmol/l beträgt, ist ein Mangel höchst unwahrscheinlich. Messergebnisse zwischen 150 und 450 nmol/l bedürfen der weiteren Abklärung durch einen Spezialisten. Patienten mit Cortisolwerten < 150 nmol/l haben mit relativ hoher Sicherheit einen Hormonmangel, der eine Therapie mit Hydrocortison sowie die zeitnahe Vorstellung bei einem Endokrinologen erfordert.
Im Fall der 67-jährigen Patientin sahen die behandelnden Ärzte keinen Grund, warum der OP-Termin verschoben werden sollte. Vermutlich war der erhöhte Cortisolspiegel die Folge des physiologischen Stresses durch die Verletzung, schreiben die Autoren. Ohne Symptome eines Cushing-Syndroms sei ein zwischenzeitlich erhöhter Wert nicht dringend behandlungsbedürftig, mit weiteren Tests könne man bis nach dem Eingriff warten.
Bei dem jungen Mann konnte nach weiteren Funktionstests die Diagnose primäre Nebenniereninsuffizienz gestellt werden. Unter der Therapie mit Hydrocortison traten keine weiteren hypoglykämischen Episoden auf.
Quelle: Hanna FWF et al. BMJ 2019; 367: I6039; DOI: 10.1136/bmj.l6039