Gefräßiges Immunsystem Wie Autoimmunerkrankungen am Gehirn nagen
Der Energiebedarf des Menschen setzt sich aus dem Grundumsatz und dem Energieverbrauch durch körperliche Aktivität, Essen und Verdauen zusammen. Ein erwachsener Mann braucht bei sitzender Körperhaltung etwa 2.400 kcal/d, ein Tour-de-France-Fahrer ungefähr 7.200 und ein Sepsispatient etwa 3.600 kcal/d. Die meiste Energie schlucken Gehirn und Rückenmark sowie die Muskulatur, ihr Grundumsatz in Ruhe beträgt pro Tag jeweils etwa 478 kcal. Das Immunsystem ist etwas bescheidener: Ohne Infektion oder eine andere Form der Aktivierung kommt es mit ca. 380 kcal/d aus. Wird es aktiviert, benötigt es mit 500 kcal/d allerdings mehr Energie, sagte Prof. Dr. Rainer Straub vom Universitätsklinikum Regensburg.
Die Kontrolle der Energieregulation erfolgt durch die beiden voneinander unabhängigen großen Verbraucher, Gehirn und Immunsystem. Sind beide in Ruhe, wird die Energie in Fettgewebe, Leber oder Muskeln gespeichert, im Rahmen einer Flucht oder Stresssituation mobilisiert das Gehirn entsprechende Ressourcen.
Bei einer Verwundung, Infektion oder der Entwicklung einer Autoimmunkrankheit kommt es zum Konflikt zwischen Immunsystem und Gehirn, erklärte Prof. Straub. Es beginnt in der Immunzelle: Ein Antigen oder ein anderer Reiz führt zu Umstellungsreaktionen, Zellproliferation und einer verstärkten Produktion proinflammatorischer Zytokine, darunter Interleukin-6. Die Zytokine werden als Botenstoffe in den Körper ausgesandt. Sie informieren das Gehirn sowohl über die Blutbahn als auch über Nervenfasern, deren Rezeptoren u.a. auf Bakterienbestandteile, Zytokine (TNF, IL-6, IL-1), Noradrenalin und Hormone reagieren. Die Schmerzbahn hat offenbar einen etwas größeren Anteil an der Weiterleitung als die Blutbahn. So werden etwa 54 % der Varianz von Müdigkeit bei rheumatoider Arthritis über die Schmerzstärke determiniert, wie eine Metaanalyse erbrachte.
Dort, wo die Information im Gehirn ankommt, löst sie eine lokale Reaktion auf die Entzündung aus. In Thalamus, Insel und Frontalhirn kommt es zur Aktivierung der Mikroglia, was wiederum ihre Umgebung beeinflusst. Am Ende steht ein Krankheitsphänomen, das Sickness Behaviour. Es ist geprägt von Müdigkeit, Depression, Appetitlosigkeit, Kältegefühl und zahllosen Folgeerscheinungen (siehe Kasten). Sickness Behaviour ist vom Körper zunächst durchaus gewollt: Der Betroffene zieht sich zurück, sucht Ruhe und legt sich flach. Auf diese Weise wird die vorhandene Energie dem Immunsystem überlassen, was bei einem kurzen Infekt absolut sinnvoll ist.
Sickness Behaviour und seine Folgen (Auswahl)
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Vagushemmung, schlechte Verdauung
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Anstieg Cortisol, erniedrigte Spiegel männlicher Geschlechtshormone
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Störung von Schilddrüsen- und Sexualfunktion
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Lipämie, Hypertonie, Insulinresistenz, gesteigerte Blutgerinnung
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Osteoporose, Muskelschwund, Zunahme des Fettgewebes
Als eine wichtige Folge des vom Immunsystem akut aktivierten Gehirns nennt Prof. Straub die Insulinresistenz. Sie beschränkt sich jedoch auf Leber, Fett- und Muskelgewebe, Gehirn und Immunsystem als nicht-insulinabhängige Konsumenten profitieren dagegen von der peripheren Blockade der Glukoseaufnahme. Über diesen Kniff kommen in 24 Stunden etwa 58 g Glukose extra zusammen. Die werden bei Infektionen oder Autoimmunerkrankungen durchaus benötigt: Chronische rheumatische Erkrankungen erhöhen den Energiebedarf um bis zu 30 %, eine Sepsis um bis zu 60 %. Auch das Gehirn kann bei erhöhtem Energiebedarf eine Insulinresistenz anstoßen. Das geschieht allerdings durch Hormone und das sympathische Nervensystem. Psychologischer Stress erhöht den Energieverbrauch um bis zu 30 %, Ängste um bis zu 15 %.
Normal ist, dass die Aktivierung des Gehirns durch das Immunsystem kurzfristig und vorübergehend erfolgt, betonte Prof. Straub. Problematisch wird es, wenn der immunologische Prozess zu lange dauert, z.B. durch Autoimmunität. Oft bleiben nämlich auch bei einer guten Entzündungseinstellung ZNS-Probleme wie Schlafstörungen, Krankheitsängste, psychischer Stress und eine eingeschränkte Hirnleistung zurück. Diese psychischen Beschwerden können dadurch begünstigt werden, dass die akute Entzündung im Gehirn mitunter neurostrukturelle Veränderungen nach sich zieht. Aus der Homöostase wird eine Dyshomöostase – auch Kakostase genannt. Sie ist umso ausgeprägter, je stärker die Entzündung in der Anfangsphase war. Und das kann dramatische Folgen haben, betonte Prof. Straub. Durch eine anhaltende Kakostase drohen der Verlust körperlicher und geistiger Fähigkeiten mit einem erhöhten Risiko für Herz-Kreislauf-Erkrankungen, neurodegenerative und psychiatrische Erkrankungen und vorzeitigen Tod.
Quelle: Kongressbericht Deutscher Rheumatologiekongress 2023