Tumorassoziierte Schmerzen: Wie sich die Versorgung von Patient:innen verbessern lässt
Wie viele Tumorerkrankte leiden unter Schmerzen und wann treten diese typischerweise auf?
Dr. Hannes Hofbauer: Ungefähr 30 % der Krebspatient:innen haben zum Zeitpunkt der Diagnose bereits Schmerzen. Die Beschwerden sind häufig wegweisend und der Grund, warum sich die Betroffenen untersuchen lassen. Die Häufigkeit steigt bei fortgeschrittenen Erkrankungen auf bis zu 70–80 %. Mittlerweile gibt es viele Langzeitüberlebende, das heißt, Menschen, die nach ihrer Tumorerstdiagnose noch mindestens fünf Jahre leben. Von ihnen leiden 20–40 % unter chronischen Schmerzen. Das bedeutet von den zurzeit 2,6 Millionen Langzeitüberlebenden in Deutschland sind rund eine halbe bis eine Million betroffen.
Bei Schmerzen wird zwischen akut und chronisch unterschieden. Wie sind akute Beschwerden definiert?
Dr. Hofbauer: Der akute Schmerz beginnt relativ konkret und lässt sich lokalisiert der Ursache, zum Beispiel dem Ort des Tumors, zuordnen. Die Akzeptanz der Patient:innen und ihres Umfelds ist meist besser als im Falle von chronischen Beschwerden.
Und chronische Schmerzen?
Dr. Hofbauer: Zum chronischen tumorassoziierten Schmerz weiß man bisher erstaunlich wenig. Dieser ist definiert als durch den Krebs selbst oder die Therapie bedingt. Aber auch mit Problemen einhergehende Folgeerkrankungen wie Post-Zoster gehören dazu. Es gibt sicherlich Überschneidungen zum nicht-tumorassoziierten Schmerz, zur Situation von Krebserkrankten existieren jedoch kaum Studien.
Chronische Schmerzen sind ein eigenes Krankheitsbild und die Ursache lässt sich meist nicht mehr eindeutig zuordnen. Das verringert die Akzeptanz bei den Betroffenen und ihrem Umfeld. Darüber hinaus verliert der chronische Schmerz seine Warnfunktion. Was ich in der Praxis häufig beobachte: Weder die Patient:innen noch ihre behandelnden Ärzt:innen erkennen an, dass der chronische Schmerz eine eigene Krankheitsqualität aufweist. Er führt zu psychischen Belastungen, die Betroffenen entwickeln Angststörungen und Depressionen und sie sorgen sich vor einem Rezidiv oder einem Progress. Sie bewegen sich seltener, um sich den Beschwerden weniger auszusetzen. Darüber hinaus existiert eine soziale Ebene: Arbeiten ist für viele nicht mehr möglich und die Patient:innen ziehen sich zurück.
In der chronischen Therapie sprechen wir daher vom biopsychosozialen Schmerzmodell, das die körperliche, aber auch die psychische und soziale Komponente beinhaltet.
Wie und von wem werden Schmerzen ermittelt?
Dr. Hofbauer: Die Beschwerden gehören primär in die Hand von Onkolog:innen und/oder Hausärzt:innen. Zur Erfassung sollte der oder die Behandelnde danach fragen sowie die Stärke und Qualität evaluieren. Schmerz ist sehr subjektiv und nicht messbar, das Ausmaß geprägt von vielen Erfahrungen. Tumorpatient:innen nehmen beispielsweise Rückenbeschwerden anders wahr als gesunde Menschen. Bei ihnen steht die Angst im Vordergrund, dass es sich vielleicht um eine Metastase handeln könnte. Das Problem: Onkolog:innen und Hausärzt:innen fragen zwar häufig nach Schmerzen, die Antworten ziehen aber v.a. auch bei mehrfach gescheiterten Therapieversuchen mit Analgetika zu oft keine Konsequenzen nach sich.
Wann sollten Schmerzmediziner:innen in onkologische Therapien mit einbezogen werden?
Dr. Hofbauer: Nicht jeder Krebserkrankte wird routinemäßig von Schmerzmediziner:innen behandelt. Das könnten wir auch gar nicht leisten, weil wir schlichtweg zu wenige sind und es an Nachwuchs fehlt. Wir werden häufig erst bei komplexeren Fällen hinzugezogen und vor allem dann, wenn klassische Medikamente nicht helfen. Dann spielen oftmals psychische Aspekte eine entscheidende Rolle, die eine effektive Schmerztherapie behindern.
Was empfehlen die Leitlinien?
Dr. Hofbauer: Eine AWMF-Leitlinie zum Thema „Tumorassoziierter Schmerz“ existiert nicht. In den Leitlinien der verschiedenen Krebserkrankungen finden sich einige wenige Informationen, aber keine konkreten Angaben, wann Schmerztherapeut:innen behandeln sollten. Die Supportiv-Leitlinie beschreibt lediglich die einzelnen therapiebedingten Komplikationen, beispielsweise Knochenschmerzen oder Mukositis. Treten diese auf, soll laut Leitlinie eine entsprechende Therapie erfolgen. Ein Kapitel zu tumorassoziierten Schmerzen fehlt.
Die Palliativleitlinie wiederum beinhaltet ein eigenes Kapitel, und die Krebshilfe empfiehlt Krebspatient:innen mit Schmerzen, in dieser Leitlinie nachzulesen. Das erachte ich persönlich aber als problematisch, da dies möglicherweise ein falsches Signal vermittelt – denn der Name „Leitlinie Palliativmedizin für Patienten mit einer nicht heilbaren Krebserkrankung“ schürt bei vielen Betroffenen möglicherweise neue Ängste.
Die ESMO hat eine Leitlinie Tumorschmerz veröffentlicht. Von der Deutschen Gesellschaft für Schmerztherapie wurde eine Praxisleitlinie zur Verfügung gestellt.
Leitlinien zu tumorassoziierten Schmerzen
- S3-Leitlinie Palliativmedizin für Patienten mit einer nicht heilbaren Krebserkrankung
- ESMO Patientenleitlinie „Tumorschmerz“
- DGS Praxisleitlinie Tumorschmerz
Wann werden Ihrer Erfahrung nach Schmerzmediziner:innen im klinischen Alltag in onkologische Therapien integriert?
Dr. Hofbauer: Das ist eine Einzelentscheidung und hängt von der oder dem Behandelnden ab. Die Uniklinik Ulm verfügt über eine Schmerzambulanz und über einen großen onkologischen Bereich. Dennoch existieren keine klaren Strukturen, die vorgeben, wann Schmerzmediziner:innen z.B. über den Konsildienst mit einbezogen werden sollten. Haben Onkolog:innen gute Erfahrungen gemacht, konsultieren sie uns häufiger, oftmals geraten wir dann aber in Vergessenheit. Für die Niedergelassenen gestaltet sich die Situation noch schwieriger.
In Ulm haben wir in der Schmerzambulanz eine „Spezialsprechstunde für tumorbedingte Schmerzen“ etabliert. Aber auch hier kommen erstaunlich wenig Patient:innen.
Wo sehen Sie die Hauptdefizite in der Zusammenarbeit zwischen Schmerzmediziner:innen und Onkolog:innen?
Dr. Hofbauer: Meiner Meinung nach fehlt häufig das Bewusstsein dafür, dass man Schmerzmediziner:innen hinzuziehen kann. Teilweise ist es für Behandelnde schwierig, Kompetenzen abzugeben, und sie wollen an ihren Patient:innen festhalten. Es fehlt an Interdisziplinarität und Austausch, darüber hinaus mangelt es teilweise an einem Grundverständnis für das Thema Schmerz. Dieser wird häufig als „Nebenprodukt“ angesehen, das eben zu einer Krebserkrankung oder einer Therapie mit dazu gehört. Das grundlegende Fehlverständnis hinsichtlich der Zuständigkeit spiegelt sich zum Beispiel auf der Patient:innenseite der Deutschen Krebsgesellschaft wider. Hier heißt es: „Die beste Hilfe gegen Ihre Schmerzen finden Sie bei Ihrem/Ihrer behandelnden internistischen Onkologen/Onkologin.“
Gibt es weitere Probleme?
Dr. Hofbauer: Schmerz wird häufig als eindimensionale körperliche Ebene betrachtet, es fehlt das Bewusstsein für den biopsychosozialen Aspekt. Den psychologischen Anteil ordnet man bei Tumorerkrankungen eher der Psychoonkologie und damit dem Umgang mit der Grunderkrankung zu, nicht aber auch der Schmerzmedizin. In der Palliativmedizin verhält sich das anders: Im „Total-Pain-Konzept“ von Cicely Saunders werden neben den rein somatischen Aspekten Einflüsse der psychischen und der sozialen Ebene auf die Schmerzen allgemein akzeptiert, wobei hier auch die Spiritualität mit Fragen nach dem Sinn oder wie es nach dem Tod weitergeht eine große Rolle spielt.
Ein weiteres Problem: Die Betroffenen nehmen die Beschwerden oft hin. Ein Beispiel sind Erkrankte, die nach Brustkrebs Aromatasehemmer bekommen und Knochenschmerzen entwickeln. Sie berichten ihren Ärzt:innen häufig nicht von ihren Problemen, da sie fürchten, die Medikamente absetzen zu müssen und daraufhin ein Rezidiv zu erleiden. Umso wichtiger ist die Aufklärung.
Möglicherweise verbessert sich die Situation mit Einführung der ICD-11, in der die Diagnose chronischer tumorassoziierter Schmerz explizit benannt wird. Dieser liegt in der deutschen Entwurfsfassung durch das BfArM vor und wurde den medizinischen Fachgesellschaften zur Abstimmung vorgelegt. Die Einführung wird somit aber leider noch längere Zeit dauern.
Was sind die Folgen, wenn Krebspatient:innen keine geeignete oder eine zu spät einsetzende Schmerztherapie erhalten?
Dr. Hofbauer: Letztendlich kommt es zu einer Chronifizierung mit all ihren multidimensionalen Folgen. Eine Studie aus dem Jahr 2015 ergab, dass Lungenkrebspatient:innen, die eine schlechtere Lebensqualität haben, eine schlechtere Prognose aufweisen. Und Schmerz beeinflusst die Lebensqualität massiv. Zu den spezifischen Chronifizierungsfaktoren bei Tumorschmerzen ist allerdings nur wenig bekannt. Hier besteht ein großes Versorgungsforschungsdefizit.
Welche Vorteile hat eine rechtzeitig implementierte Behandlung?
Dr. Hofbauer: Zum einen verbessert sich die Versorgung der Patient:innen, die Lebensqualität steigt. Sekundäre Langzeitzustände lassen sich vermeiden. Zum anderen kommt es idealerweise seltener zu einer Arbeitsunfähigkeit oder Berentung.
Für nicht-tumorbedingte Schmerzen wurden Daten veröffentlicht, die zeigen, dass eine multimodale Behandlung im Rahmen des biopsychosozialen Schmerzmodells Ängste abbauen kann und die Betroffenen wieder mehr in die Bewegung bringt. Die Patient:innen geben dem Schmerz insgesamt weniger Raum und sie sind trotz der Beschwerden aktiver. Schon Mitte der 1990er-Jahre demonstrierten Studien, dass es dadurch zu einer deutlich früheren Reintegration in die Arbeit kam. Für tumorassoziierte Schmerzen existieren solche Daten nicht – ich gehe aber davon aus, dass sich hier die gleichen Effekte ergeben.
Wie kann die Versorgung der Patient:innen verbessert werden?
Dr. Hofbauer: Es muss mehr Bewusstsein geschaffen werden, sowohl bei Hausärzt:innen als auch bei Onkolog:innen. Auch die Betroffenen selbst müssen von uns Schmerzmediziner:innen erfahren. Wünschenswert wäre, dass wir früher in die Behandlung mit einbezogen werden. Die Zertifizierung für onkologische Zentren setzt eine Vernetzung zu Schmerztherapeut:innen voraus. Das bedeutet, das Wissen und die Struktur sind prinzipiell vorhanden, sie werden aber nicht ausreichend gelebt.
Es braucht dringend bessere Rahmenbedingungen im niedergelassenen Bereich. Die Schmerzmedizin ist nicht lukrativ, weshalb ein Großteil der Kolleg:innen beispielsweise auch Anästhesien durchführt, um sich zu finanzieren. Schmerztherapie gehört zur sprechenden Medizin und ein erster Patient:innenkontakt braucht, wenn man es richtig macht, mindestens eine Stunde Zeit. Einen Facharzt/eine Fachärztin für Schmerzmedizin gibt es nicht; hier besteht aber Uneinigkeit, ob das gefordert werden sollte, u.a. da Ausbildungsstätten fehlen.
Zahlen des BVSD* aus dem Jahr 2019 ergaben, dass innerhalb von fünf Jahren – also jetzt – rund die Hälfte der Schmerzmediziner:innen in Rente geht oder kurz davor steht. Es kommt kaum Nachwuchs, auch, weil der Idealismus verloren gegangen ist. Schmerzmedizin hat leider oftmals ein schlechtes Image, da die Patient:innengruppe als anstrengend empfunden wird. Dabei kann es sehr erfüllend sein, wenn man die Betroffenen im biopsychosozialen Sinne behandelt und ihnen nach vielen rein somatisch orientierten Therapien endlich helfen kann. Und dieser „ganzheitliche“ Ansatz ist sicher der Grund, warum sich viele von uns für den ärztlichen Beruf entschieden haben. Ich hoffe, diese Sichtweise motiviert junge Mediziner:innen, ein Interesse für die Schmerzmedizin zu entwickeln und sich dafür zu begeistern.
Darüber hinaus fehlt es an Studien. Wir müssen die Versorgungsforschung vorantreiben: zu Langzeitkosten und Langzeitfolgen von tumorassoziierten Tumorschmerzen.
Was möchten Sie Onkolog:innen darüber hinaus mit auf den Weg geben?
Dr. Hofbauer: Wünschenswert wäre ein kritischerer Umgang mit Opioiden. Im Akutfall ist die Anwendung gerechtfertigt. Bei chronischen Schmerzen werden die Opioide häufig hochdosiert, manche Patient:innen regulieren damit ihre Stimmung. Im Prinzip sind es aber Angst und weitere psychische Probleme, die man behandeln müsste.
* Berufsverband der Ärzte und Psychologischen Psychotherapeuten in der Schmerz- und Palliativmedizin in Deutschland
Medical-Tribune-Interview