Genetik „Wo ist der Rest des Orchesters?“
Durch genetische Studien wurden in den letzten Jahrzehnten entscheidende Signalwege im Hypothalamus und im Hirnstamm aufgeklärt. Die Identifizierung dieser für eine angemessene Appetitregulation erforderlichen Achsen – etwa der Leptin-Melanocortin-Signalweg – hat Einblicke in normale Prozesse bei der Energiehomöostase ermöglicht, erklärte Professor Dr. Giles Yeo, Universität Cambridge. Monogenetische Veränderungen führen zu schwerer Adipositas bereits im Kindesalter, seien jedoch selten. Für die meisten Menschen mit Adipositas gebe es bisher keine aussagekräftigen biologischen Erkenntnisse, die präventiv oder therapeutisch genutzt werden könnten.
Der Neuroendokrinologe berichtete von der Entdeckung erster seltener Genvarianten, die mit Adipositas in Verbindung stehen und durch die ein erhöhtes Risiko für Fettleibigkeit erst im Erwachsenenalter beobachtet wurde. Es handelt sich um BSN, das nach dem englischen Begriff für „Fagott” (bassoon) benannt wurde, sowie das Amyloid-Vorläufergen APBA1. Genutzt wurde u. a. eine britische Datenbank, um eine vollständige Exom-Sequenzierung in Verbindung mit dem BMI bei mehr als 500.000 Personen durchzuführen. „Wir haben eine genetische Veränderung im ‚Fagott’ entdeckt, aber ich frage mich dennoch: Wo ist der Rest des Orchesters?“, so Prof. Yeo. Immerhin spielt schon das Fagott allein eine entscheidende Rolle, denn das Risiko für Fettleibigkeit steigt durch die Mutation um das Sechsfache.
Fagott-Variante assoziiert mit Fettleber und Typ-2-Diabetes
Zudem ist die Fagott-Genvariante mit einem erhöhten Risiko für eine metabolisch-assoziierte Fettleber und Typ-2-Diabetes assoziiert und betrifft einen von 6.500 Erwachsenen und damit rund 10.000 Menschen in Großbritannien. Inwieweit BSN und APBA1 am Leptin-Melanocortin-Signalweg beteiligt sind, müsse weiter untersucht werden. Möglicherweise wurde mit den vorliegenden Analysen ein biologischer Mechanismus für Fettleibigkeit aufgedeckt, der sich von denjenigen unterscheidet, die bereits für zuvor identifizierte Adipositas-Genvarianten bekannt sind.
Prof. Yeo berichtete auch über eine vermutlich weit verbreitete Mutation beim Melanocortin-4-Rezeptor (MC4R). In der Avon Longitudinal Study of Parents and Children war etwa eine von 337 Personen davon betroffen. Die Untersuchung des Zusammenhangs zwischen nicht synonymen MC4R-Varianten und anthropometrischen Phänotypen von der Kindheit bis ins frühe Erwachsenenalter (18 Jahre) zeigte bei den mehr als 5.700 Teilnehmenden gravierende Unterschiede zwischen vorhandenen und nicht vorhandenen Mutationen, die zu einem Funktionsverlust führen: Die mittlere Differenz betrug 17,8 kg (Körpergewicht), 4,8 kg/m² (BMI) und 14,8 kg (Fettmasse).
Auch die Peripherie sendet wichtige Signale
Neben der Rolle des Gehirns darf auch die Bedeutung peripherer Organe und Entitäten nicht außer Acht gelassen werden: Die Pathophysiologie der Adipositas spiele sich zwar hauptsächlich im Gehirn ab, sagte Professor Dr. Matthias Blüher, Leipzig. Aber dabei integriere dieses zentrale Organ viele Signale aus der Peripherie zur Regulation des Energiehaushalts. Hier gibt es noch viele offene Fragen, etwa: „Woher weiß die Kalorie, wohin sie gehen soll?“ Der Diabetologe und Endokrinologe geht davon aus, dass Adipositas und damit verbundene Komorbiditäten besser behandelt werden können, sobald mehr über die Bedeutung der „Peripherie“ bekannt ist.
Derzeit weiter erforscht wird die Bedeutung des Signalwegs des GIP-Rezeptors (GIPR) im Gehirn. Für die Kombination eines GIP- mit GLP1-Rezeptoragonisten liegen erste Ergebnisse aus einer Phase-1-Studie vor, die für einen dosisabhängigen Gewichtsverlust sprechen. „Wie das funktioniert, diese Verbindung von Ant- und Agonisten, das können wir noch nicht wirklich erklären.“
Diabetes Kongress 2024