„30 000 Obduktionen sind es mindestens“
Wie wird man Rechtsmediziner?
Prof. Tsokos: Man muss die Facharztausbildung durchlaufen, die ein halbes Jahr Psychiatrie und ein halbes Jahr Pathologie einschließt. Zudem müssen in den anderen vier Jahren bestimmte Ziele erfüllt sein, darunter eine bestimmte Zahl an Obduktionen und feingeweblichen Untersuchungen, Gutachten vor Gericht und Beurteilungen von Knochenfunden.
Und wie wird man ein erfahrener Rechtsmediziner?
Prof. Tsokos: Entscheidend ist, wo man arbeitet, ob in einem kleinen Institut mit nur 100 oder 150 Obduktionen pro Jahr oder an einem großen Institut wie Hamburg, München oder Berlin. Bei uns ist es zum Beispiel so, dass Assistenten schon nach dem ersten Jahr die erforderliche Zahl an Obduktionen erreicht haben, während andere anderswo das in fünf Jahren nicht schaffen. In Gießen oder Essen wird viel weniger obduziert, da dauert es länger, bis man die ganze Bandbreite einmal gesehen hat.
Rechtsmediziner und Pathologen werden, so schreiben Sie, oft verwechselt. Wie ist die Abgrenzung?
Prof. Tsokos: Das sind zuerst einmal zwei völlig verschiedene Facharztausbildungen. Der Pathologe sitzt zudem in der Regel am Mikroskop, er untersucht z.B., ob eine Sehnenscheidenentzündung chronisch ist oder ob ein bestimmter Tumor auf eine bestimmte Chemotherapie anspricht. Obduziert wird vor allem zur Überprüfung von Diagnose und Therapie. Pathologen obduzieren auch nur mit Einverständnis der Angehörigen. Wir Rechtsmediziner sitzen so gut wie nie am Mikroskop. Wir obduzieren hauptsächlich. Eine Zustimmung der Angehörigen des Toten ist bei uns nicht erforderlich, denn der Leichnam ist bereits von der Staatsanwaltschaft beschlagnahmt und von einem Richter wurde die Obduktion verfügt. Ein weiterer Unterschied ist, dass der Pathologe allein arbeiten kann. Das dürfen wir nicht. In der Strafprozessordnung ist festgeschrieben, dass wir zu zweit, also nach dem Vier-Augen-Prinzip, arbeiten müssen. Ein Pathologe führt auch keine chemisch-toxikologischen Untersuchungen durch und er wird sich nicht zur Todeszeit äußern. Er kann auch nicht erkennen, ob jemand zu Lebzeiten ertrunken oder nachträglich ins Wasser gelangt ist.
Rechtsmediziner werden im Film oft als Dauer-Tüftler dargestellt, ist dem so?
Prof. Tsokos: Das wird im Fernsehen falsch suggeriert. Es ist in 95 % der Fälle ein strukturierter Prozess, den wir abarbeiten. Es gibt in der Strafprozessordnung ganz klare Vorgaben, welche Körperhöhlen – Kopfhöhle, Brusthöhle, Bauchhöhle – zu öffnen sind oder was bei der Obduktion von Neugeborenen zu beachten ist. Es ist nicht so, dass jeder sein eigenes Schema hat und sich nebenbei noch innerhalb weniger Stunden oder Tage neue Untersuchungsmethoden ausdenkt. Es dauert Jahre, bis neue Methoden publiziert werden und in die Anwendung kommen. Rechtsmediziner sind jedenfalls keine exotischen Eigenbrötler, die immer mit neuen Verfahren kommen.
Aber es gibt moderne Verfahren.
Prof. Tsokos: Sicher. Wir führen unter anderem computertomografische Untersuchungen durch. Die Bildgebung hat die Rechtsmedizin in den letzten Jahren erheblich nach vorne gebracht, sowohl was die Diagnostik als auch die Schnelligkeit der Untersuchungen betrifft.
Wann nutzen Sie diese Verfahren?
Prof. Tsokos: Wenn bei der äußeren Leichenschau keine Verletzungen sichtbar sind, weil die Haut schon schwarz oder grün und schmierig erweicht ist, prüfen wir per CT, ob Projektile im Körper stecken oder abgebrochene Klingen. Das hat mich selbst schon vor Verletzungen bewahrt. Und wir sehen Frakturen. Früher war es so, dass die Knochen herausgenommen und aufbereitet werden mussten, die Frakturlinien wurden markiert und die Knochen wieder zusammengesetzt.