Die Leichenschau als Quotenhit
Der in den 1970er-Jahren von Jack Klugman verkörperte „Quincy“ muss wohl als der Urvater der TV-Gerichtsmediziner gelten. Inzwischen hat er längst unzählige Nachfolger gefunden und so vergeht im deutschen Fernsehen mittlerweile kaum ein Tag, an dem nicht auf irgendeinem Sender eine Leiche mehr oder weniger gründlich unter die Lupe genommen wird. Jüngstes Mitglied dieser großen Familie ist Michael Tsokos (im MT-Interview), von der Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung unlängst als „Tausendsassa der Rechtsmedizin“ geadelt.
„Das ist mir ein bisschen zu viel der Heuchelei“
Auf Sat.1 ist er seit Kurzem „dem Tod auf der Spur“. Mit dem Ernst des Themas angemessener Mimik und Stimme, untermalt von dramatischer Filmmusik, schnippelt der Institutsleiter der Berliner Charité vor der Kamera an Leichen herum, die von Special-Effect-Spezialisten in Hollywood zuvor zu Hologrammen umgearbeitet wurden. Dem eigenen Selbstverständnis zufolge will der renommierte Forensiker dabei „mit einem neuen, anspruchsvollen Wissenschaftsformat etwas vermitteln“. Das ist mir dann doch ein bisschen zu viel der Heuchelei, denn gerade Sat.1 ist in der Vergangenheit nicht mit Nischenprogramm für akademische Weiterbildung aufgefallen.
Dem hohen Anspruch wird das vom Sender bezeichnenderweise unter dem Genre Real-Crime-Doku avisierte Format bestenfalls bedingt gerecht. Da hatten die seinerzeit so heftig umstrittenen „Körperwelten“ des Gunther von Hagen in jeder Hinsicht mehr zu bieten. In Wirklichkeit geht es dem begnadeten Selbstdarsteller Tsokos wohl eher um Einschaltquote dank Gänsehaut und Nervenkitzel, denn allein das Zuschauerinteresse wird letzten Endes darüber entscheiden, wie viele Folgen der Tsokos-Show produziert und gesendet werden. Deshalb sind die Fälle denn auch publikumswirksam mit dem entsprechenden Nervenkitzel aufbereitet.
„Horror-Häppchen in klinisch sauberer Kulisse zu später Stunde“
Da es sich durchweg um „echte“ Fälle handelt, dürfen es ein paar makabre Gruseleffekte aus der Asservatenkammer zur Untermalung des Grauens dann schon sein. Und so weiß man hinterher so einiges über die zahlreichen Verletzungen, die dem Opfer mit Machete oder Axt zugefügt wurden (ehe es fachkundig zerstückelt wurde). Horror-Häppchen in klinisch sauberer Kulisse also zu später Stunde. Ob es so gelingt, den Ruf einer Branche als seriöse Wissenschaft zu stärken? Oder geht es am Ende in erster Linie gar um ein gewiss großzügig bemessenes Honorar, um schnöden Mammon also?
„Dann schaue ich lieber Professor Boerne bei der Leichenschau zu“
Mir jedenfalls ist ein anderer Rechtsmediziner im Fernsehen wesentlich sympathischer. Über den von Jan Josef Liefers so herrlich arrogant-verschroben gespielten Professor Boerne im Tatort aus Münster amüsiere ich mich nämlich immer wieder köstlich. Dass sich dessen Fälle ein phantasievoller Autor nur ausgedacht hat, ist locker zu verschmerzen. Derart humorvoll überzeichnet kann die Leichenschau von mir aus auch gerne zum Quotenhit werden.