STIKO „Ansprüche an die Qualität der Impfempfehlungen sind gestiegen“

Gesundheitspolitik Autor: Antje Thiel

COVID-19 war eine Ausnahmesituation, alles musste schnell gehen COVID-19 war eine Ausnahmesituation, alles musste schnell gehen © MQ-Illustrations - stock.adobe.com

Manche Impfstoffe empfiehlt die Ständige Impfkommission (STIKO) beim RKI im Eiltempo, bei anderen lässt sie sich jahrelang Zeit. Wie es zu diesen Unterschieden kommt und nach welchen Kriterien Impfungen bewertet werden, erläutert der Infektiologe Prof. Dr. Ulrich Heininger, der von 2001 bis Frühjahr 2024 Mitglied der Kommission war. 

Deutschland schnieft und hustet, die Infektwelle rollt. Und wie jedes Jahr im Herbst rückt das Thema Grippeschutz-Impfung wieder in den Fokus. COVID-19-Impfstoffe, die an die aktuell vorherrschende Variante JN.1 angepasst wurden, sind bereits seit Mitte August für Arztpraxen verfügbar. Empfohlen werden diese seit Anfang 2024 nur noch für ältere Menschen und besonders vulnerable bzw. exponierte Gruppen. Es war nicht die erste Überarbeitung und Anpassung der Empfehlung, seit sich die STIKO im Dezember 2020 – quasi zeitgleich mit der Zulassung des ersten COVID-19-Vakzins – erstmals zum Thema COVID-19-Impfung geäußert hatte.

Nicht allen Menschen war das rasante Tempo geheuer, mit dem Impfstoffe gegen COVID-19 zugelassen und empfohlen wurden. Doch man muss nicht zwingend Verschwörungserzählungen und Schwurbelei anhängen, wenn man sich fragt, warum die STIKO für manche Impfstoffe sehr rasch eine Empfehlung ausspricht, während sie bei anderen erst Jahre nach der Zulassung grünes Licht gibt. 

Bestens vertraut mit den komplexen Prozessen der Entscheidungsfindung innerhalb der STIKO ist Prof. Dr. Ulrich Heininger. Der Abteilungsleiter für Pädiatrische Infektiologie und Vakzinologie am Universitäts-Kinderspital beider Basel (UKBB) gehörte der Kommission 23 Jahre lang an und hat in dieser Zeit an unzähligen Impfempfehlungen mitgewirkt.

Bis zu einer Empfehlung dauert es 0 bis 10 Jahre

„Im Fall von COVID-19 waren wir in einer Ausnahmesituation“, berichtet er, „da musste alles maximal schnell gehen.“ In nicht-pandemischen Zeiten hingegen gilt bereits eine Impfempfehlung innerhalb eines Jahres nach der Zulassung des Impfstoffs als hohes Tempo. Beispiele hierfür sind die Empfehlung zur RSV-Immunisierung für Säuglinge 2024 oder die Empfehlung zur HPV-Impfung für Mädchen im Jahr 2007. 

Im Gegensatz dazu dauerte es bei der Meningokokken-B-Impfung fast zehn Jahre, bis sie die STIKO letztlich für alle Säuglinge ab einem Alter von zwei Monaten empfahl. Zuvor wurde die Impfung hierzulande lediglich für bestimmte Risikogruppen empfohlen, „obwohl Großbritannien sie längst ins nationale Impfprogramm aufgenommen hatte“, berichtet Prof. Heininger.

Am Beispiel der Meningokokken-B-Impfung lässt sich gut veranschaulichen, warum Impfempfehlungen gelegentlich von Land zu Land anders ausfallen, wie die STIKO arbeitet und warum ihre Arbeit nicht immer gleich viel Zeit in Anspruch nimmt. „Ein Grund für unsere Zurückhaltung war, dass hierzulande die Krankheitslast deutlich geringer ist als in Großbritannien“, erinnert sich der Experte. Damit war das öffentliche Interesse geringer. 

Fokus auf epidemiologische und gesundheitsökonomische Faktoren

Die STIKO wurde 1972 beim damaligen Bundesgesundheitsamt eingerichtet. Sie ist heute ein im Infektionsschutzgesetz verankertes unabhängiges Expertengremium aus 12 bis 18 Mitgliedern, das vom BMG im Benehmen mit den obersten Landesgesundheitsbehörden alle drei Jahre berufen wird. Es erarbeitet Empfehlungen für Schutzimpfungen und andere Maßnahmen der spezifischen Prophylaxe übertragbarer Krankheiten. Aufbauend auf den zulassungsrelevanten Kriterien (Wirksamkeit, Unbedenklichkeit, pharmazeutische Qualität) analysiert die STIKO neben dem individuellen Nutzen-Risiko-Verhältnis auch die Epidemiologie auf Bevölkerungsebene und die Effekte einer flächendeckenden Impfstrategie für Deutschland.

Grundlagen einer STIKO-Impfempfehlung sind neben der Bewertung von Daten zur Krankheitslast insbesondere systematische Literaturrecherchen und Evidenzbewertungen zu Sicherheit und Wirksamkeit der Impfung. Dabei können unter Umständen auch Daten aus (Beobachtungs-)Studien nach der Impfstoff-Zulassung berücksichtigt werden. Zusätzlich muss üblicherweise ein mathematisches Modell entwickelt werden, um die epidemiologischen und gesundheitsökonomischen Folgen einer Impfempfehlung abschätzen zu können.

Außerdem beschäftigt sich die STIKO mit Fragen der Implementierung und Akzeptanz der Impfung in der Bevölkerung sowie mit den Möglichkeiten der Evaluation. Grundsätzlich folgt die STIKO in wesentlichen Punkten der systematischen Methodik der Evidenzbasierten Medizin.

rki.de/DE/Content/Kommissionen/STIKO/Aufgaben_Methoden/methoden_node.html

Entscheidungen unabhängig von der Politik getroffen

An welcher neuen Impfempfehlung bzw. Überarbeitung einer bestehenden Empfehlung öffentliches Interesse besteht, beratschlagt die Kommission zu Beginn jeder Amtsperiode. Dabei werden auch Vorschläge oder Impulse aus der Politik oder von medizinischen Fachgesellschaften berücksichtigt. Bei Bedarf zieht das Gremium für seine Beratungen in Arbeitsgruppen auch externe Fachleute hinzu. 

Prof. Heininger legt allerdings Wert auf die Feststellung, dass die Kommission ihre Entscheidungen unabhängig von der Politik trifft. So hätten insbesondere während der Pandemie bekanntlich Politiker wie der bayerische Ministerpräsident Markus Söder diverse Forderungen nach Impfempfehlungen bis hin zur Impfpflicht erhoben. „So etwas dringt natürlich auch zur STIKO durch, beeinflusst ihre Arbeit aber nicht.“

Vielmehr stimmen die ehrenamtlich tätigen STIKO-Mitglieder intern mittels eines transparenten Punktesystems darüber ab, welche Themen sie mit ihren naturgemäß begrenzten Kapazitäten priorisiert bearbeiten möchten. Bei der Arbeit an den ausgewählten Themen prüft und bewertet die Kommission die Datenbasis aus dem Zulassungsprozess eines Impfstoffs. Neben vielen weiteren Aspekten bewertet sie auch mathematische Modellierungen zu den epidemiologischen wie gesundheitsökonomischen Folgen einer möglichen Impfempfehlung. 

Dieser Prozess hat sich in den vergangenen Jahrzehnten stark gewandelt: „Vor 50 Jahren saßen Experten am Tisch und haben oftmals auf Basis ihrer Erfahrungen und Einschätzungen Impfempfehlungen ausgesprochen“, sagt Prof. Heininger. Diese waren oftmals richtig. 

Gestiegene Ansprüche an Qualität und Transparenz

Heute folge die Ständige Impfkommission aber strikt den Prinzipien der evidenzbasierten Medizin. „Nicht in allen Fällen sind randomisierte Kontrollstudien ethisch vertretbar, wir stützen uns also auf die jeweils bestmögliche Evidenz“, erklärt er. „Und im Fall der Meningokokken-B-Impfung fand die Mehrheit der STIKO-Mitglieder die Evidenzlage zunächst noch zu dünn für eine allgemeine Impfempfehlung.“

Angesichts der großen Detailtiefe lassen sich Meinungsverschiedenheiten kaum vermeiden. „Dann wird gestritten – im positiven Sinne – bis die fundierte Meinungsbildung abgeschlossen ist“, berichtet der Baseler Infektiologe. Am Ende steht ein demokratischer Mehrheitsentscheid. Die Beratungen selbst sind vertraulich, „das ist wichtig, damit eine ehrliche und offene Debatte möglich ist“. Doch die Ergebnisse der Beratungen werden regelmäßig im Epidemiologischen Bulletin des Robert Koch-Instituts (RKI) veröffentlicht.

Prof. Heininger hat über die Jahre beobachtet, wie die Ansprüche an die Qualität und Transparenz der Entscheidungsprozesse von Gremien wie der STIKO gestiegen sind. „Das ist auch gut so, mittlerweile unterliegen ja alle Bereiche unseres Lebens strengeren Qualitätskontrollen.“

Anlass zu grundsätzlicher Manöverkritik sieht der Experte rückblickend daher nicht. Im Gegenteil: „Die STIKO genießt international zu Recht einen sehr guten Ruf“, sagt er. Für ihn persönlich war die Arbeit immer „anspruchsvoll, aber auch sehr belohnend“. Die Fachwelt ebenso wie die Bevölkerung wisse es zu schätzen, dass die STIKO gründlich arbeitet und fundierte Empfehlungen veröffentlicht. „So ein positives Echo fühlt sich dann an wie der Applaus für einen Schauspieler auf der Bühne.“ 

Quelle: MT- Bericht