Praxiskolumne Der Druck im System steigt und steigt
Damit meine ich nicht nur unser Gesundheitssystem. Durch viele Fehlentscheidungen und vor allem die kurzsichtige wie unsinnige Ansicht, dass Systeme wie das Bildungs- oder Gesundheitswesen nicht zu viel kosten dürfen bzw. sogar noch Erträge einbringen müssen, hat man über Jahrzehnte hinweg Raubbau betrieben. Wie Käse wurden sie durch Sparmaßnahmen ausgehöhlt. Auf immer weniger Schultern lastet immer mehr Verantwortung. Und die Qualität nimmt ab – was nicht überrascht.
Fehlender Nachwuchs, fehlende Ausbildung, fehlende Studienplätze, Löcher in allen Unterstützungssystemen. Überall fehlt Personal, der Krankenstand ist enorm hoch. Die Vertretung der Vertretung scheint das neue Normal zu sein. Ich warte darauf, wann der Druck so hoch ist, dass alles explodiert.
Als Medizinerin sehe ich die Misere insbesondere im Gesundheitssystem. Es fehlen Personal, Perspektive und Geld. Eine Hausärztin muss zunehmend auch als Sozialpädagogin und Sozialarbeiterin fungieren. Immer mehr Erschwernisse sollen wir beheben.
Alleinstehende, schlecht informierte oder überforderte Patientinnen und Patienten melden sich: „Können Sie nicht einmal die Woche bei Oma vorbeischauen?“ „Opa hat einen Dauerkatheter gelegt bekommen. Wer lässt da jetzt den Urin raus?“ „Ich finde keinen Physiotherapeuten, der Termine hat.“ „Schreiben Sie mir mal die Telefonnummern aller Kardiologen auf. Mein Internet geht nicht.“ „Ich bin vor fünf Tagen operiert worden und brauche heute eine Wundkontrolle. (11 Uhr am Freitag)“ „Warum schreiben Sie mir Medikamente auf, die nicht lieferbar sind?“ „Papa ist im Krankenhaus und soll verlegt werden. Wie läuft das ab?“ „Rufen Sie mal bei meinem Vermieter an. Der will meine Wohnung betreten.“ Wir alle in den Praxen kennen solche Sätze.
Es gibt kein Problem, das noch nicht einem Hausarzt oder einer Hausärztin präsentiert wurde. Worauf ich hinaus will: Wir Hausärztinnen und -ärzte sind nicht nur medizinisch der Grundpfeiler des Systems, wir fangen schon lange und vermehrt Leute auf, die durch die rissigen Netze fallen.
Ein Gedankenspiel: Angenommen, man selbst wäre Minister für Gesundheit. Was wäre die sinnvollste Handlung bei Ärztemangel, immer mehr chronisch Kranken in fehlenden sozialen Netzen und fehlender Bildung insbesondere im Hygienebereich? Die weitere Kürzung von Geldern? Das Anstreben von Fließbandmedizin? Der Abbau von Stellen und Versorgungsstrukturen? Weitere Aufgaben für die wenigen Ärztinnen und Ärzte?
Bis heute scheint dies die Devise zu sein. Denn was geschieht: Die Erwartungshaltung der Patientinnen und Patienten wird geschürt und unsere Aufgaben nehmen zu. Das betrifft unnötige Dinge, wie das Befüllen von elektronischen Patientenakten, genauso wie komplizierte Dokumentationen für grundlegende Dinge wie Impfungen. Es gibt keinerlei oder kaum Entlohnung für all die zusätzliche Sozialarbeit, die wir leisten. Digitalisieren ist nicht möglich ohne Arbeitseinsatz von Personal! Patientinnen und Patienten bekommen so gut wie keine Facharzttermine mehr mit einer Wartezeit von weniger als sechs bis neun Monaten – außer ihr Hausarzt oder ihre Hausärztin ruft dort an.
Schwindende Ressourcen sollte man schonen, nicht verheizen. Doch genau das passiert. Regresse, neue Vorschriften, immer schlechtere Arbeitsbedingungen. Wer den Schritt in die Privatmedizin macht, bereut es aktuell nicht. Ich bin auch kurz davor. Durch Personalverlust kaum mehr arbeitsfähig, ohne jegliche Unterstützung durch die KV, träume ich davon, Patientinnen und Patienten individuell, mit viel Zeit und ohne den Druck einer ePA oder Regressgefahr wirtschaftlich sinnvoll behandeln zu können.
Doch ich weiß, dass meine KV- Patientinnen und -Patienten nicht so leicht irgendwo anders unterkämen. Also halte ich durch, auch wenn die Hoffnung auf Besserung verflogen ist. Aber gleichzeitig schäme ich mich dafür, in diesem System mitzuspielen. Denn so halten wir es noch am Laufen.