Schwarzfahrer im Gesundheitssystem
Wer bis zuletzt gebangt oder gehofft hatte, der Bundestag stimme doch noch gegen einen verpflichtenden Masernschutz, darf aufatmen. Oder muss. Denn ob das die Lösung gegen die zunehmende Impfmüdigkeit ist, bleibt zu bezweifeln. Weil Schutzimpfungen so erfolgreich sind, kennt hierzulande kaum noch jemand die Folgen, die Infektionskrankheiten wie Masern nach sich ziehen können. Befragte nennen Husten, Schnupfen, tränende Augen. Von Krämpfen, schweren Pneumonien und Enzephalitiden spricht kaum jemand. Die gegenwärtige Sicherheit führt dazu, dass diese Gefahren unterschätzt werden. Das ist ein Problem der Risikowahrnehmung: Ist es überhaupt wichtig, dass ich mich vor der Krankheit schütze?
Besonders Eltern fühlen sich durch widersprüchliche Informationen verunsichert. Auf der einen Seite stehen offizielle Aufklärungskampagnen, gegen die Impfgegner vor allem im Netz lautstark wettern. Und gab es da nicht diese Studien, wonach die Mumps-Masern-Röteln-Vakzine zu Autismus führt? Wer einmal verunsichert ist, sucht gezielt nach ähnlichen Informationen. Wiederholt haben psychologische Experimente gezeigt, dass Menschen bei einem Überangebot an konträren Argumenten unbewusst dazu neigen, sich auf jene zu stützen, die die eigenen Vorurteile bestätigen. Eine partielle Impfpflicht, wie jetzt beschlossen, schafft noch ein ganz anderes Problem. Psychologen bezeichnen das Phänomen als Reaktanz: Zwar werden die Quoten zum Masernschutz durch das Gesetz steigen.
Gleichzeitig kann es aber passieren, dass freiwillige Impfungen seltener in Anspruch genommen werden, so gesehen in Italien und Frankreich. Eine Pflicht schränkt die Handlungsfreiheit ein, und diese Freiheit holt man sich an anderer Stelle zurück. Auch werden sich einige fragen, weshalb nur der Masernschutz verbindlich wurde, nicht aber andere Impfungen. Letztere könnten dann als weniger wichtig bzw. bedenklich wahrgenommen werden. Impfmüden muss der Zugang zum Impfen so einfach wie möglich gemacht werden. Viele Arztpraxen nutzen bereits Erinnerungssysteme per Mail oder SMS. Auch könnten wieder Ärzte in Kitas und Schulen gehen, um die Kleinen zu impfen und ihren Eltern den Gang in die Praxis zu ersparen.
Maria Fett
Medizinredakteurin Medical Tribune