Medizin in der Krise Deutschland ist auf den Kriegsfall nicht gut vorbereitet

Gesundheitspolitik Autor: Cornelia Kolbeck

Der militärische Konflikt drängt Handeln auf. Der militärische Konflikt drängt Handeln auf. © New Africa - stock.adobe.com

Die militärische Verteidigung Deutschlands im In- oder Ausland würde erhebliche medizinische Kapazitäten erfordern. Zu planen wäre deshalb u. a. die Versorgung Verwundeter von der Akutbehandlung bis zur Rehabilitation. Bisher ist Deutschland auf den Kriegsfall nicht vorbereitet.

„Stellen Sie sich vor, es ist Krieg und keiner geht hin.“ Dieses auf den Autor Carl Sandburg zurückgehende und von der Friedensbewegung einst genutzte Zitat scheint in weite Ferne gerückt zu sein angesichts des Kriegs in der Ukraine. Politiker und Militärexperten warnen vor einer Ausweitung des Konfliktes auf ganz Europa. Dass Deutschland militärisch darauf nicht gut vorbereitet ist, zeigen Probleme mit Waffensystemen und eine aus Sicht der Bundeswehr unzureichende finanzielle Absicherung. Große Probleme sind auch hinsichtlich der medizinischen Versorgung zu erwarten, wie eine Veranstaltung der Bundesärztekammer zeigte. 

„Ich sage ihnen ehrlich: Ich fühle mich zurzeit bedroht“, erklärt Generalstabsarzt Dr. Ralf Hoffmann. Diese Bedrohung sei für ihn sehr real durch einen Krieg, der nicht einmal 1.000 Kilometer von der deutschen Grenze entfernt stattfinde. 

Der Bundeswehrarzt mahnt eine Verzahnung aller Akteure im Gesundheitswesen an, um gewappnet zu sein, wenn im NATO-Bündnisfall täglich 300 bis 1.000 Patientinnen und Patienten aus einem Einsatzgebiet zurück nach Deutschland verlegt werden müssten. Der Sanitätsdienst der Bundeswehr verfügt mit seinen fünf Bundeswehrkrankenhäusern über 1.500 Betten. „Ich werde mich, wenn es eng wird, an die zivile Seite wenden müssen“, so der Generalstabsarzt. Er hält eine Planung von der Aufnahme Verletzter bis zur Rehabilitation angesichts einer möglicherweise über Monate andauernden kritischen Lage für dringend erforderlich, inklusive der Vorbereitung einer Verzahnung von zivilen und militärischen Strukturen.

„Und was machen wir, wenn ein Gegner ins Land reinkommt, wie geht es dann weiter? Dafür gibt es, ehrlich gesagt, noch keinen guten Plan“, so Dr. Hoffmann. Wie er berichtet, bereitet die Bundeswehr zurzeit ein Leitsystem vor, um verwundete Patientinnen und Patienten auf Einrichtungen verteilen zu können.  Gespräche mit Partnern, die z. B. im Rote-Kreuz-Gesetz definiert sind, laufen.

Die Charité hilft

Seit März 2022 werden Schwerverletzte und Schwerkranke aus der Ukraine in Deutschland behandelt. Die Charité – Universitätsmedizin Berlin hat bereits mehr als 3.000 ukrainische Patientinnen und Patienten versorgt. Einem 24-jährigen Soldaten konnte in einer 18-stündigen Operation mittels Beinknochen und Metallimplantaten der völlig zerstörte Unterkiefer ersetzt werden. Zuvor hatten neun Universitätskliniken und zwei Militärkrankenhäuser seine Behandlung abgelehnt. Die Charité übt sich bereits aktiv in Health Security und Krisenresilienz. Sie verfügt als einzige Einrichtung in Deutschland über eine Sonderisolierstation für die Behandlung nach chemischen, biologischen, radiologischen und nuklearen Angriffen.

Der militärische Konflikt in der Ukraine dränge Handeln auf, meint Prof. Dr. jur. Kerstin von der Decken, Ministerin für Justiz und Gesundheit (CDU) in Schleswig-Holstein und zurzeit Vorsitzende der Gesundheitsministerkonferenz der Länder. Da Versorgungsstrukturen, etwa bei größeren militärischen Konflikten, ohnehin länderübergreifend genutzt werden müssten, wäre ein Gesetz des Bundes zielführend.

„Wir erwarten, dass der Bund seiner für den Sommer 2024 angekündigten Initiative, das Gesundheitssystem im Zuge eines gesonderten Gesetzes besser auf große Katastrophen und eventuelle militärische Konflikte vorbereiten zu wollen, Taten folgen lässt“, so die Ministerin. Die Länder, zuständig für Krankenhausplanung, sollten beteiligt werden, um planen zu können. In der Krankenhausreform sei dies zu berücksichtigen. 

Die Politikerin verwies zudem auf den OPLAN DEU, den Operationsplan Deutschland, Anfang 2024 von der Bundeswehr vorgestellt und abzielend auf die militärische und zivile Zusammenarbeit im Kriegsfall. „Der Operationsplan ist aus meiner Sicht ein richtiger und wichtiger Schritt“, betont die Juristin. Er sollte bei allen Initiativen berücksichtigt werden, bei denen das Gesundheitswesen auf eine große Zahl von Verletzten vorbereitet werden soll. 

Prof. Dr. rer. nat. Heyo Kroemer, Pharmakologe und Vorsitzender des „ExpertInnenrats Gesundheit & Resilienz“, sieht Deutschland hinsichtlich eines Massenanfalls von Verletzten (MANV), wie beim Anschlag auf dem Berliner Breitscheidplatz 2016, gut aufgestellt. Ein Verteidigungsfall sei aber eben nicht 50- oder hundertmal MANV, sondern eine „völlig andere Dimension mit einer völlig anderen zeitlichen Komponente“. 

International bereiten sich Länder auf kritische Lagen vor, ebenso die UN und die Weltgesundheitsorganisation. „Die meisten Länder beauftragen ein ziviles Krankenhaus mit der Übernahme von Aufgaben der nationalen Gesundheitssicherheit“, berichtet Prof. Kroemer. „Ich werbe dafür, dass wir das Thema Health Security ebenso ernst nehmen, wie andere Länder das tun.“

Aus seiner Sicht wird auch bei der Health Security eine Zeitenwende gebraucht. In Deutschland gebe es zwar ein beginnendes Problembewusstein und die Zusammenarbeit zwischen militärischen und zivilen Bereichen, es gebe aber keine geregelte Finanzierung und ebenso keine klaren Anforderungen. Weiterhin sei die Einbindung der ambulanten Gesundheitsversorgung noch unklar. „Stellen Sie sich vor, wenn Sie die Kapazitäten vor Ort herunterfahren, um Militärangehörige zu versorgen, was passiert dann mit den Menschen, die vorher hier versorgt wurden?“

Ralph Tiesler ist Präsident des Bundesamts für Bevölkerungsschutz und Katastrophenhilfe. Auch er zeichnet kein erfreuliches Bild, obwohl Deutschland vor einer neuen Realität stehe und sich mit dem Thema Krieg auseinandersetzen müsse. Bei der Gesamtverteidigung seien die beiden Seiten der Medaille zu betrachten. „Miltärische Verteidigung kann nur funktionieren, wenn auch die zivile Seite ihren Beitrag dazu liefert.“ Es sei zivile Aufgabe, die Streitkräfte in ihrem Verteidigungsauftrag zu unterstützen. Das sei auch Gegenstand des Operationsplans Deutschland.

Rat an die Regierung

„Aufgrund aktueller sicherheitspolitischer Entwicklungen und des Anstiegs des Risikos für akute außergewöhnliche Gesundheitsgefährdungen erscheint die Entwicklung eines integrierten Health-Security-Konzeptes für die Bundesrepublik Deutschland in Form eines Nationalen Aktionsplans dringend geboten. Insgesamt sollte eine Stärkung der Gesundheitsversorgung auch aus sicherheitsstrategischer Perspektive erfolgen.“

Quelle: ExpertInnenrat der Bundesregierung Gesundheit & Resilienz

Ja, der Plan sei geheim, aber die zivile Seite (Staat und Zivilschutz) beschäftige sich schon seit Monaten gemeinsam mit dem territorialen Führungskommando in Konferenzen und Gesprächsrunden mit den Herausforderungen. Viele Vorschriften seien nicht mehr aktuell und müssten überdacht werden. Das betrifft Aspekte wie Zuständigkeiten, Alarmplanung, Melderichtlinien und die Sicherung von Einrichtungen. 

Aufgabe seiner Behörde sei es, so der Amtspräsident, für den Schutz der Bevölkerung und das Überleben die notwendigen Voraussetzungen zu schaffen. Auch Tiesler rechnet im Bündnisfall, bei einer Verlegung von Streitkräften an europäische Außengrenzen oder hybriden Angriffen, möglicherweise mit bis zu 1.000 Patientinnen und Patienten pro Tag, die hierzulande versorgt werden müssten. „Wir werden kriegsbedingte Verletzungsmuster erleben. Wir werden uns über die Frage eines strategischen Patiententransports austauschen müssen. Wir werden uns darauf einstellen müssen, dass wir Sabotageakte erleben und Anschläge auf unsere Gesundheitsinfrastruktur.“ Deutschland müsse sich möglicherweise auch auf großflächige CBRN-Lagen einrichten müssen, das heißt auf Angriffe mit chemischen, biologischen, radiologischen und nuklearen Substanzen. Hinzu käme die Aufnahme von Geflüchteten in einer Größenordnung von bis zu 2 % der Gesamtbevölkerung.

Wenn es zum Bündnis- oder gar zum Kriegsfall komme, dann wird nichts mehr so sein, wie es vorher war, bemerkt Bundesärztekammer-Präsident Dr. Klaus Reinhardt. Man müsse diese neuen Realitäten akzeptieren und über die Resilienz des Gesundheitswesens insgesamt sprechen. Der Kammerchef spricht von strukturellen Herausforderungen für den Öffentlichen Gesundheitsdienst, die Krankenhäuser, die Praxen, die Notfallversorgung, den Rettungsdienst und viele weitere Versorgungsbereiche

„Gute Vorbereitung, ausreichende Vorhaltung, klar geregelte Zuständigkeiten und trainierte Abläufe sind grundlegend, um für den Krisenfall gewappnet zu sein.“ Theoretische Ausführungen gebe es umfangreich zu allen möglichen Fragestellungen, von Konzeptpapieren bis Handbüchern. „Wir haben aber in Deutschland Hemmungen vor Improvisation.“ Improvisation werde jedoch in einer solchen Situation gefragt sein. Es brauche allerdings auch Planung. Pragmatische Handlungslösungen müssten regelhaft trainiert werden.