Automatisierte Insulindosierung Diskussion: Werden selbst gebaute AID-Systeme (noch) benötigt?

diatec journal Autor: Prof. Dr. Lutz Heinemann

Mittlerweile gibt es diverse kommerzielle AID-Systeme. Werden selbst gebaute Lösungen somit nicht mehr benötigt? Dazu wurde auf der ADA-Tagung diskutiert. Mittlerweile gibt es diverse kommerzielle AID-Systeme. Werden selbst gebaute Lösungen somit nicht mehr benötigt? Dazu wurde auf der ADA-Tagung diskutiert. © GraphicStock – stock.adobe.com

Im Rahmen einer Pro- und Kontra-Diskussion auf der Jahrestagung der amerikanischen Diabetes-Gesellschaft (ADA) gab es eine lebhafte Debatte zwischen Dana Lewis, einer bekannten Protagonistin von selbst gebauten (Do it yourself; DIY) AID-Systemen, und Prof. Dr. Greg Forlenza, Diabetologe des großen Diabeteszentrums Barbara Davis Center in Denver.

Nach Meinung von Dana Lewis sind Open-Source-AID-Systeme für Menschen mit Typ-1-Diabetes nicht nur vorteilhaft, sondern sogar immer noch notwendig. Sie betonte in ihrem Vortrag, dass diese Art von Systemen zwar nicht offiziell zugelassen ist, es aber nicht an Beweisen für deren Nutzen mangelt. Sie hob die Fülle der veröffentlichten klinischen Nachweise für diese Systeme hervor. Diese zeigen, dass sie die Time in Range (TIR) verbessern, die mittlere Glukosekonzen­tration und damit den HbA1c nachhaltig senken, Hypo- und Hyperglykämien verringern sowie die Lebensqualität verbessern.

Als Beispiel nannte sie ­CREATE-RCT (siehe Literaturliste im beigestellten Kommentar), die erste randomisierte kontrollierte Studie mit DIY-AID-Systemen, deren Ergebnisse beim ADA 2022 vorgestellt wurden. Darin wurden Teilnehmer verglichen, die entweder ein DIY-AID-System nutzten oder eine sensorgestützte Insulinpumpentherapie (SuP) durchführten. Die Nutzer in der DIY-AID-Gruppe wiesen im Vergleich zur SuP-Gruppe nach sechs Monaten eine Verbesserung der TIR, um plus 2,4 Stunden pro Tag auf 71 Prozent auf. 

Pro: Interoperabilität, mehr Flexibilität 

Zusätzliche Vorteile von DIY-AID-Systemen sieht Lewis in der Interoperabilität mit anderen Geräten und dass die Anwender einen transparenteren Einblick erhalten, wie das System insgesamt funktioniert. Demnach ermöglichen sie technisch versierten Anwendern, die Algorithmen zur Insulindosierung auf einer Ebene zu bewerten und zu verstehen, wie es kommerzielle AID-Systeme nicht bieten. Durch den besseren Zugang zu Daten sowie der schnelleren Iterationsoptionen der Algorithmen sei zudem eine rasche Anpassung an die Echtzeitbedürfnisse der Anwender möglich. Darüber hinaus können die Nutzer solcher Systeme laut Lewis flexibler entscheiden, welche Verhaltensweisen sie im Zusammenhang mit dem Diabetesmanagement ausüben möchten und diese Systeme daran anpassen. 

Als Beispiel führte sie einen Open-Source-AID-Code an, der es den Nutzern erlaubt, die Bolusgabe, das Zählen von Kohlenhydraten und die Ankündigung von Mahlzeiten zu reduzieren. Diese Personalisierung ermögliche es, weniger Zeit und Energie für das Diabetesmanagement zu verwenden und dadurch die Belastung durch die Krankheit zu verringern. Und da DIY-AID-Systeme zudem kostengünstiger sein können als kommerzielle, sieht die Rednerin in ihnen auch eine gute Option für diejenigen, bei denen die Kosten nicht von der Versicherung abgedeckt werden (in den USA unterstützen die ADA-Standards für die Patientenversorgung seit 2019 die Wahlfreiheit der Nutzer – inklusive DIY-AID-Systemen). Ihrer Meinung nach profitieren Menschen mit Typ-1-Diabetes daher erheblich von der Nutzung von AID-Systemen und jeder von ihnen sollte gemeinsam mit den Behandlern die freie Wahl haben, wie sie ihren Diabetes behandeln wollen.

Cons: komplexe Handhabung, fehlende Rechtssicherheit  

Aus Sicht eines Vertreters des eta­blierten US-Gesundheitssystems, Prof. Dr. Greg Forlenza, sind DIY-AID- Systeme für das ­Diabetesmanagement hingegen nicht mehr notwendig. Die Tatsache, dass es in den USA inzwischen vier kommerzielle AID-Systeme mit einer Zulassung gibt (die somit sowohl sicher als auch wirksam sind), sieht er als Beleg dafür, dass es keinen Bedarf mehr an DIY-AID-Systemen gibt. Er wies darauf hin, dass die kommerziellen Systeme den Entwicklungs- und Zulassungsprozess in den USA deutlich schneller durchlaufen haben, als gedacht und stellte Ergebnisse von Zulassungs- und Real-World-Studien vor, die belegen, dass mit DIY-AID-Systemen im Vergleich zu kommerziellen AID-Systemen ausgesprochen vergleichbare Ergebnisse erreicht werden. 

Zumal diese Systeme aus Sicht von Prof. Forlenza nicht für die Mehrzahl von Menschen mit Diabetes geeignet sind. Er wies darauf hin, dass in vielen der veröffentlichten DIY-AID-Studien Selektionsverzerrungen bestehen. Er nannte als Beispiel eine Studie, bei der 40 Prozent der Teilnehmer einen Hochschulabschluss und 70 Prozent ein Haushaltseinkommen von über 100.000 US-Dollar hatten. Beides ist nicht repräsentativ für die Mehrzahl der Menschen mit Diabetes, wobei er einschob, dass es auch bei Studien mit kommerziellen AID-Systemen Selektionsverzerrungen gibt. Zudem werden in den USA mehr als zwei Drittel der Erwachsenen mit Typ-1-Diabetes nicht von einem Facharzt versorgt und nach Ansicht von Prof. Forlenza kann nicht erwartet werden, dass sich Hausärzte mit den komplexen DIY-AID-Systemen vertraut machen. 

Abschließend nannte er als Haupt­argument gegen die Nutzung von DIY-AID-Systemen die fehlende Rechtssicherheit, falls es zu Problemen kommt. Als Verschreiber von AID-Systemen fühlt er sich nicht wohl, wenn es um nicht autorisierte medizinische Geräte geht. Als Mediziner betrachtet er diese Systeme eben anders, als es Menschen mit Diabetes tun. 

American Diabetes Association (ADA) – 83rd Scientific Sessions 

Kommentar von Dr. Andreas Thomas

 Zweifellos stellten und stellen die DIY-AID-Systeme einen Gewinn für die Behandlung von Menschen mit Typ-1-Diabetes dar. Die Protagonisten dieser Systeme haben die Algorithmen selbstständig entwickelt und zur Verfügung gestellt. Das ist auf jeden Fall ein großer Verdienst, wobei damit aus meiner Sicht weniger die mathematische Leistung (ähnlich gelagerte Algorithmen existieren in der Regeltechnik und sind allgemein bekannt) gemeint ist, sondern die Initiative und der Mut, dies praktisch im Selbstversuch anzuwenden. 

Die Algorithmen in einem „selbst gebauten“ System anzuwenden (selbst gebaut bedeutet hier die Nutzung einer handelsüblichen Insulinpumpe und eines handelsüblichen CGM mit einem nicht von Gesundheitsbehörden zugelassenen Algorithmus) bleibt jedoch ein Selbstversuch. Ein solcher bedarf keiner Zulassung, die Verbreitung eines solchen Systems aber doch. Und das ist bei DIY-AID nicht gegeben. Auf jeden Fall kann man den Protagonisten von DIY-AID – also Menschen wie Dana Lewis und Scott Leibrand in den USA oder z.B. Katharina Braune in Deutschland – zugestehen, dass sie mit ihren Entwicklungen in der Vergangenheit einen gewissen Druck im Markt aufgebaut haben. Damit ist weniger die Entwicklung der Systeme in den großen Firmen gemeint, denn die ersten offiziellen Studien mit AID-Systemen wurden um das Jahr 2002 von den Firmen Minimed (heute zu Medtronic gehörig) [1, 2] und Disetronic [3] durchgeführt. Gemeint ist damit der positive Druck auf die Gesundheitsbehörden, solche Systeme auch zuzulassen. 

Weiterhin ist festzustellen, dass die Anwender von DIY-AID profunde Kenntnisse bzgl. ihres Stoffwechsels haben. Das zeigt sich auch in Studien, die mit solchen Anwendern durchgeführt wurden. So wiesen zum Beispiel 558 Erwachsene und Kinder in einer prospektiven Beobachtungsstudie in den Baseline-Daten bereits einen HbA1c-Wert von 6,8±1,0 Prozent und eine „Time in Range“ (TIR) von 67 Prozent auf. Beide Parameter verbesserten sich unter DIY-AID: der HbA1c-Wert sank auf 6,5±0,8 Prozent, die TIR stieg auf 73 Prozent [4]. Die Ausgangswerte waren schon sehr gut und wurden verbessert. Allerdings erreichen solche Ergebnisse auch Menschen mit Typ-1-Diabetes, die ein kommerzielles System anwenden. 
Es lässt sich folglich feststellen, dass die kommerziellen Systeme ausreichend gut sind und vor allem von vielen Menschen mit Typ-1-Diabetes angewendet werden können. Und als Sicherheit haben diese, dass die betreffenden Firmen entsprechend der Zulassung auch die rechtliche Verantwortung für die Funktionsfähigkeit der AID-Systeme tragen.

Literatur:

  1. Renard E, Shah R, Miller M et al. Sustained safety and accuracy of central IV glucose sensors connected to implanted insulin pumps and short-term closed-loop trials in diabetic patients. Diabetologia 2003; 46 (Suppl.2): A47.
  2. Steil GM, Rebrin K, Janowski R et al. A classical control systems model of ß–cell insulin secretion for use in a closed-loop insulin delivery algorithm. Dia­betologia 2003; 46 (Suppl.2): A310. 
  3. Hovorka R, Chassin LJ, Wilinska ME et al. Closing the loop: the adicol experience. Diabetes Technol Ther. 2004; 6 (3): 307-318.
  4. Lum JW, Bailey RJ, Barnes-Lomen V et al. A Real-World Prospective Study of the Safety and Effectiveness of the Loop Open Source Automated Insulin Delivery System. Diabetes Technol Ther. 2021; 23 (5): 367-375.