Never Events Ein Arzt berichtet von seinen Erlebnissen als Klinikpatient
Der Ort: Ein deutsches Universitätsklinikum. Eine Klinik für Innere Medizin. Zweibettzimmer. Der Patient: Arzt, Anfang 50, Chef eines mittelständischen Unternehmens. Zu behandeln wegen Bakeriämie nach Magenkrebs-OP, d.h.: Antibiotikainfusionen und parenterale Ernährung. Stationär zehn Tage Aufenthalt Anfang Juni 2023.
„Therapie- und gesundheitsgefährdend“ – mit diesen Worten fasst Dr. S. seine Klinikerlebnisse zusammen. Er befürchtet, dass er nicht der bedauerliche Einzelfall ist, bei dem Pannen kumulierten. Wenn auch zunächst bettlägerig, konnte er als Mediziner bei vollem Bewusstsein die bei ihm (nicht) erbrachten Leistungen kontrollieren und kommentieren. Andere Patienten können das nicht. Was passiert bei denen, fragt er sich.
Medizinischer Dienst fordert Meldepflicht für Never Events
Schwerwiegende, aber sicher vermeidbare Ereignisse wie Seiten- oder Medikamentenverwechslungen (sog. Never Events) sollten verpflichtend gemeldet werden, fordert Dr. Stefan Gronemeyer, Vorstandvorsitzender des Medizinischen Dienstes (MD) Bund. „Das ist internationaler Standard in der Patientensicherheit.“ Die geplante Novellierung des Patientenrechtegesetzes biete die Chance, eine verpflichtende „Nationale Never-Event-Liste“ einzuführen. Da die Meldung der Schadensereignisse allein der Prävention diene, sollte sie für die Einrichtungen sanktionsfrei und pseudonymisiert erfolgen. In der MD-Begutachtungsstatistik für 2022 tauchten 165 dieser Fälle auf, 2021 waren es 130 Fälle. Diese Ereignisse zeigten, „dass Risiken im Versorgungsprozess bestehen und die Sicherheitsvorkehrungen vor Ort unzureichend sind“.
2022 hat der MD bundesweit 13.059 fachärztliche Gutachten zu vermuteten Behandlungsfehlern erstellt. In jedem vierten Fall wurde ein Fehler mit Schaden bestätigt. In jedem fünften Fall war der Fehler Ursache für den erlittenen Schaden. Die Dunkelziffer sei deutlich höher, sagt Dr. Gronemeyer. „Experten gehen davon aus, dass etwa 1 % der Krankenhausfälle von Behandlungsfehlern betroffen ist. Nur etwa 3 % aller unerwünschten Ereignisse werden nachverfolgt.“
Allerdings musste Dr. S. einsehen, dass seine Kritik nicht gut ankam. Nach Klagen über auffällige Hygienemängel und therapiehinderliche Abläufe, habe ihm der Chefarzt zu verstehen gegeben, dass er die Situation bitte nicht weiter eskalieren solle. Es würden den Pflegekräften ärztliche Anordnungen gegeben. Mit einem härteren Vorgehen riskiere man, dass sich Krankenschwestern krank meldeten oder „wegrennen“. Damit wäre niemandem geholfen. Schweigen will Dr. S. trotzdem nicht. Er erzählt, wo es bei seiner stationären Pflege hakte.
Infusionsintervalle passen nicht zum Routineablauf
Ja, er hatte den Eindruck, dass viel neues Personal auf der Station war, das eingewiesen werden musste. Doch es könne nicht sein, dass man im Krankenhaus kränker werde, als wenn man die Therapie zu Hause selbst durchführe. Seit er seine Versorgung daheim mithilfe eines ambulanten Pflegedienstes und der Apotheke organisiert habe, laufe es rund.
„Wenn Statistiken veröffentlicht werden, dass so und so viel Todesfälle in Krankenhäusern zu vermeiden wären, kann ich das gut verstehen“, sagt Dr. S. Denn was nütze ein Qualitätsmanagement, dessen Einhaltung man nicht erzwingen dürfe, weil sonst die Leute weglaufen. Prinzipiell könne das, was er erlebt habe, auch in anderen Häusern passieren. „Aber die Ignoranz auf dieser Station war schon einzigartig.“
Was ist passiert? Dr. S. schildert unter anderem folgende Vorkommnisse: Nach seiner Gastrektomie in einem anderen Krankenhaus der Stadt suchte er die Uniklinik zur Nachbehandlung für die ambulante Chemotherapie auf. Auch für die Behandlung einer Bakteriämie ging er dorthin. „Natürlich wurde ein bisschen Diagnostik gemacht. Die einzige Therapie bestand aber darin, das Fieber zu senken und dreimal täglich die richtigen Antibiotikainfusionen anzuhängen.“
Dreimal täglich bedeutet eigentlich alle acht Stunden, um den Wirkspiegel konstant zu halten. Tatsächlich wurde eine Infusion nach fünf Stunden erneuert, die zweite nach 13 Stunden. Dr. S. beschwerte sich. Mit der Folge, dass eine bereits vorbereitete Infusion zunächst ungenutzt blieb, obwohl sie unverzüglich verabreicht werden müsste und nicht längere Zeit Licht und Zimmertemperaturen ausgesetzt sein darf. „Bei mir stand sie vier Stunden herum“, berichtet der Arzt.
Da Dr. S. auf die Behandlung nicht ansprach, wurde die Antibiotikagabe auf viermal täglich erhöht. D. h. auch nachts um 2 Uhr hätte er eine Infusion bekommen müssen. Dumm nur, dass die Nachtschwester davon nichts wusste. Erst auf Drängen des Kollegen klärte sich die Notwendigkeit. Kommentar der Pflegekraft: Nicht aufregen, als Patient muss man eben mitdenken und aufpassen – auch nachts um 2 Uhr. Dazu passt: Ein anderes Mal wurde das Infusionsfläschchen mit dem für den Zimmernachbarn verwechselt. Dr. S. merkte es rechtzeitig.
Dass der Patient trotz solcher Pannen in der Uniklinik blieb, erklärt er mit der Notwendigkeit einer parenteralen Ernährung, die über periphere Venen verabreicht wurde, weil der Port wegen des Infekts entfernt worden war. „Ich bekam nachts über einen Automaten 900 kcal zugeführt. Deshalb habe ich mich nicht selbst aus der Klinik entlassen.“
Haben Sie Ähnliches erlebt?
Diese Geschichte zeigt den Perspektivwechsel, wenn sich ein Arzt in der Position des Patienten befindet und Schwächen in der Gesundheitsversorgung erleben muss. Sie hat sich laut Dr. S. so wie geschildert zugetragen. Wir haben mit Rücksicht auf seine Person auf die Namensnennung verzichtet. Da es sich um einen Einzelbericht handelt und für verallgemeinernde Aussagen die Belege fehlen, nennen wir auch nicht Namen und Standort des Krankenhauses.
Wenn Sie Ähnliches oder auch ganz anderes erzählen möchten, schreiben Sie uns an: mtd-kontakt@medtrix.group
Mehr Tempo bei der parenteralen Ernährung
Die Dosierung der parenteralen Ernährung lässt sich am Automaten programmieren. „Die Pflegekraft hat offenbar gedacht: 13 Stunden ist zu lang, das geht auch in sechs Stunden – und hat hat mir 150 ml/h durch die Vene geblasen“, erzählt Dr. S.
Allerdings: 150 ml/h sind „absolut zu hoch, knapp unter 100 ml/h schon grenzwertig. Venen drohen zu platzen“, wie Dr. S. im Nachhinein in Erfahrung brachte. Das Ergebnis: „Alle zwei Tage brauchte ich einen neuen Zugang, weil die Vene sich verabschiedet hatte.“
Mit seinen täglichen Kommentaren konnte Dr. S. vor Ort nicht durchdringen. Dreimal habe er nach der Pflegedienstleitung gefragt, die aber nie kam. Er glaubt: Angesichts der kriselnden Situation in der Pflege haben die leitenden Ärzte längst die Waffen gestreckt. Selbst eine ärztliche Anordnung habe nicht gegen das Argument der Pflege geholfen, man könne nicht jeden Patienten wegen der Infusionen einzeln ablaufen, das müsse in die Routinegänge reinpassen.
Vorteile eines PKV-Status oder einen Kollegenbonus bemerkte Dr. S. jedenfalls nicht. Bei der Diagnostik – CT und Magenspiegelung – hätten diese möglicherweise geholfen und so schneller zur Diagnose geführt. „Aber wenn Sie im Krankenhausmodus sind: keine Chance mehr.“
„Fehler lassen sich nicht vollständig vermeiden. Wichtig ist, dass Menschen und Organisationen daraus lernen und sie möglichst nur einmal passieren“, äußert sich die Pressestelle des Klinikums auf Anfrage. Man habe ein „weitreichendes und erfolgreich auditiertes Qualitätsmanagementsystem“. Wer Lob oder Beschwerden loswerden will, könne dies auch über ein Onlineformular tun. Der Meldung werde nachgegangen, beteuert ein Sprecher. Für alle Arbeitsbereiche am Universitätsklinikum gebe es spezifische Einarbeitungskataloge sowie weitere Pflichtschulungen, beispielsweise zur Hygiene.
Die Meldesysteme für Fehler würden in der Inneren Medizin nachweislich genutzt. „Relevante Ergebnisse werden in die Teams zurückgekoppelt. Bei Bedarf werden zusätzliche Sicherheitsmechanismen entwickelt.“
Am Zentrum für Innere Medizin bestehe in der Pflege weder ein grundlegender Personalmangel noch werde das übliche Maß an Fluktuation aktuell überschritten. Es gebe auch keinen überdurchschnittlich hohen Krankenstand.
Die Verärgerung von Dr. S. können solche Hinweise nicht beheben. „Ich brauche kein Online-Beschwerdemanagement, nachdem ich entlassen wurde“, betont er. „Ich möchte, dass bei zehn Tagen Aufenthalt das Problem innerhalb von spätestens 48 Stunden behoben ist.“
Medical-Tribune-Bericht