Praxiskolumne Einsamkeit verbreitet sich wie eine Seuche
Immer mehr meiner Patientinnen und Patienten leiden unter Einsamkeit. Waren es früher vor allem ältere Menschen, deren Ehepartner nach einem langen gemeinsamen Eheleben das Zeitliche gesegnet haben und die damit nur schwer zurechtkamen, sind es mittlerweile Personen in allen Altersgruppen.
Da ist z. B. der 23-jährige Student, dessen Sozialleben an den Folgen der coronabedingten fehlenden Vernetzung zu Beginn seines Studiums, die irgendwie nie nachgeholt werden konnte, leidet. Nichts schweißt so zusammen wie eine feucht-fröhliche ,,Erstiwoche“, die einen verkatert in fremden Betten aufwachen lässt. Er dagegen hat 500 Instagramkontakte, ist jedoch abends und am Wochenende zu oft alleine zu Hause.
Er hat inzwischen eine ausgeprägte Prüfungsangst entwickelt, lernt alleine. Partys oder Sport? Fehlanzeige. In eine Wohngemeinschaft will er nicht ziehen. Ob er einsam sei, frage ich ihn. Irgendwie schon, meint er und wirkt dabei, als ob ihm das peinlich sei.
Oder der geschiedene IT-Experte, der beruflich viel reist und oft kurzfristig irgendwo ein Projekt betreut. Er leidet unter seiner Schuppenflechte, geht selten unter Leute.
Und die 44-jährige alleinerziehende Mutter, die mit ihrem Teilzeitjob gerade so über die Runden kommt und weder Zeit noch Geld für große soziale Aktivitäten übrig hat, höchstens mal einen Besuch in der Eisdiele alle paar Wochen. ,,Ich komme nicht viel raus, muss mich ja um die Kinder kümmern und bin oft so erschöpft“, sagt sie mir, als ich fragte, ob sie sich sozial zurückziehe. Die Frage stellte ich, weil sie unter ausgeprägten Schlafstörungen leidet, was ja bekanntlich ein Zeichen von Depression sein kann.
Viele haben fernab von den sozialen Medien weder echte Kontakte zu ihren Nachbarn noch einen lebendigen Freundeskreis. Corona hat das sicher alles verstärkt. Aktivitäten in Gruppen, Vereinsleben, Kaffeetrinken mit der besten Freundin oder abends nach der Arbeit mit Kolleg:innen ein Bier trinken – dies scheint kaum noch stattzufinden. Vereine klagen über fehlenden Nachwuchs, die Leute ziehen sich zurück und vereinzeln in ihren Wohnblöcken. Das ist längst kein Großstadtphänomen mehr. Dabei wusste schon Charles Darwin, dass der Mensch ein soziales Wesen ist. Und in der Bibel steht: „Es ist nicht gut, dass der Mensch alleine ist.“
Die Hausarztpraxis ist auch hier der Ort, wo diese Dinge zuerst auffallen, ein Frühwarnsystem der Gesellschaft, was Epidemien betrifft. Wartezimmer sind häufig ein Mikrokosmos des großen Ganzen. Wir bemerken, dass die Menschen dort immer weniger miteinander sprechen, fast alle sind damit beschäftigt, in ihr Handy zu starren! Wo man sich früher während des Wartens vielleicht nach dem Grund des Hierseins der Anderen erkundigt hat, um kollektiv zu beklagen, dass Rückenschmerzen ganz schön wehtun oder mit Bauchweh nicht zu spaßen ist, verhindert heute das „Kommunikationsgerät“ oft jede direkte analoge Kommunikation. Ein Paradoxon!
Stellen wir Einsamkeit fest, ist das hausärztliche Gespräch gefragt. Leider fehlen mittlerweile fast überall die Ressourcen für lange Gespräche sowie Anlaufstellen, wohin wir die Einsamen vermitteln können. Viele Länder haben inzwischen Einsamkeitsministerien oder -beauftragte; wie so oft hinken wir in Deutschland der Entwicklung hinterher. Einsamkeit kann Menschen krank machen oder bestehende Krankheiten verstärken. Es ist Zeit, sich zu kümmern, politisch und vielleicht auch in der Versorgungsverantwortung.