Frech wie Frauke
„Ich habe mir extra einen Termin geholt!“, verkündete meine Patientin aufgeräumt, als sie sich niederließ. „Sonst sch… Sie mir wieder vor den Koffer, wenn ich Sie länger aufhalte!“ Abgesehen davon, dass ich diese Diktion von einer älteren Dame nicht erwartet hätte, fühlte ich mich verpflichtet, mein Gehirn in den Selbstüberprüfungsmodus zu versetzen. In der Sache musste ich mich sogleich schuldig bekennen: Wenn es Wichtiges zu besprechen oder Ausführliches zu untersuchen gibt, mache ich das nur ungern ohne Termin. Aber hatte ich diese Patientin tatsächlich einmal angepflaumt?
Dabei gebe ich mir Mühe, die Wahrheit wenigstens charmant zu beschreiben
Schon plauderte sie weiter: „Meine Bekannte meinte, dass Sie ihr zu frech wären, aber ich komme ja richtig gut mit Ihnen aus. Darum habe ich ihr gesagt, wir seien beide frech, und dann passt das.“ Zack, saß ich mit ihr und ihrem Mundwerk in einem Boot, und mein weichgezeichnetes Selbstbild der gütigen, einfühlsamen, geduldigen Ärztin bekam einen herben Knacks. „Ich bin nicht frech“, verteidigte ich mich lahm, „ich bin nur ehrlich! Dabei gebe ich mir wirklich Mühe, die Wahrheit wenigstens ein bisschen charmant zu beschreiben, aber das ist mir wohl nicht immer gelungen.“ Die Patientin lachte: „Nein, nicht immer“, sagte sie vergnügt, „aber lassen Sie uns nun zu mir kommen.“
Nach dem Gespräch dachte ich wieder einmal darüber nach, wie unterschiedlich wir von unseren Patient(inn)en eingeschätzt werden. Was die einen als Offenheit und Geradlinigkeit schätzen, empfinden die anderen als Zumutung. So hatte ich jahrelang einen Diabetiker betreut, der nicht nur 50 kg Übergewicht mit sich herumschleppte, sondern obendrein unter Spätschäden litt. Die Retinopathie hatte sein Sehvermögen deutlich geschwächt, die Polyneuropathie ließ ihn nicht schlafen, die Durchblutung war der Rede nicht wert und seine Haut litt unter rezidivierenden Entzündungen.
Eines Tages hatte ich vorsichtig gesagt: „Wir können das Insulin nicht erhöhen, dann nehmen sie nur noch mehr zu. Ich glaube Ihnen, dass Sie das Gefühl haben, gar nicht so viel zu essen. Vielleicht ist es nur das Falsche … Schreiben Sie doch einmal drei Tage auf, was genau Sie essen, dann schauen wir das zusammen durch und überlegen, was man umstellen kann.“ Schonender, so dachte ich mir, hätte ich es nicht ausdrücken können.
Das Wort „dick“ habe ich nie benutzt
Zwei Wochen später sah ich ihn wieder in der Praxis stehen, allerdings bei meiner Kollegin angemeldet. Ich war verblüfft: Was hatte ich falsch gemacht? Natürlich fragte ich später nach und die Auskunft war simpel. „Sie hätten ihm gesagt, er sei dick!“, informierte mich meine Kollegin, die ihn irgendwann auch enttäuschen wird. Schließlich ist auch für sie die Diät Grundlage aller Diabetestherapie.
Dick also. Das Wort hatte ich garantiert nicht in den Mund genommen und eigentlich wäre es bei seiner Adipositas per magna noch untertrieben gewesen. Sollte ich in Zukunft Insulinresistenz und steigendes Körpergewicht ignorieren, um die zarten Seelen meiner Patienten nicht zu belasten? „Sie sind zu klein für ihr Gewicht“, wäre wirklich frech gewesen, schließlich hätte er ca. drei Meter groß sein müssen, um seine Kilos angemessen zu verteilen. Die Information, „Insulin wird in der Schweinemast verwendet, weil es einen so prima fett werden lässt“, wäre zwar landwirtschaftlich interessant, aber doch auch niederschmetternd gewesen. Einem wissenschaftlichen Ausflug in das Gebiet von Insulinresistenz, DPP4-Inhibitoren und dem Kohlenhydratstoffwechsel im Allgemeinen hätte er nicht folgen können. Die klare Ansage „Bier ist nichts für Diabetiker“ hatte ich zwar schon gemacht, aber doch verstanden, dass seine Einsamkeit manchmal größer war als der Wunsch, den Blutzuckerspiegel in Ordnung zu halten.
Nun also ist er weg, weil ich „frech“ war. Möge der Himmel meine Kollegin mit endloser Geduld und goldenen Worten segnen!