Geriatrie Bollwerk gegen Pflegebedürftigkeit
Der Berufsverband Deutscher Internistinnen und Internisten (BDI) hatte das Thema „Altersmedizin – Zwischen Patientenautonomie und medizinischen Möglichkeiten“ auf die Themenliste seines diesjährigen Hauptstadtforums gesetzt. „Uns erreichen in den Medien täglich Hiobsbotschaften, was das Thema Alterspflege angeht“, bemerkte PD Dr. Kevin Schulte, BDI-Vizepräsident und stellvertretender Klinikdirektor am Universitätsklinikum Schleswig-Holstein. Die Kosten seien von letztem zu diesem Jahr um mehr als 20% gestiegen. Man höre an jeder Stelle, dass Personal fehle. Dass damit ein demografischer Doppelschlag komme, sei schon kalter Kaffee. Man müsse sich endlich fragen, wie das Problem zu lösen sei.
Autonomie der Menschen stärker in den Fokus rücken
„Ich glaube, die Geriatrie hat das Potenzial, unser gesellschaftliches Bollwerk gegen Pflegebedürftigkeit zu werden“, zeigte sich Dr. Schulte überzeugt. Dazu müssten aber Autonomie und Selbstständigkeit bei älteren Menschen stärker in den Fokus gerückt werden. Es sei doch das Schönste, auf diese Weise Pflegebedürftigkeit zu vermeiden und zu reduzieren. Und es sei auch die beste Lösung für das kommende gesellschaftliche Problem. Bei der Pflegebedürftigkeit gehe es immer nur „bergauf“, so seine Kritik bezogen auf den Pflegegrad. Das müsse sich ändern. Die Politik habe das Thema aber bisher nicht auf dem Schirm.
Enquete-Kommission soll das Thema publik machen
In einem Positionspapier geht der BDI auf konkrete Handlungserfordernisse ein. Der Verband fordert vom Deutschen Bundestag, eine Enquete-Kommission für eine offene gesellschaftliche Diskussion über die Herausforderungen des demografischen Wandels einzusetzen.
Dr. Schulte meinte, dass akzeptiert werden müsse, wenn Pflegebedürftige mehr Autonomie zulasten eines sicheren umsorgten Umfelds wünschten. Weniger Sicherheit könne im Alter der Preis für Autonomie sein, so der Internist. „Die Gesellschaft muss lernen, das zu akzeptieren.“ Diese Diskussion müsse in die Öffentlichkeit getragen werden. Es sei eine absurde Situation, angesichts von steigendem Pflegebedarf Menschen in Einrichtungen zu bringen, die das intrinsisch gar nicht wollten, nur weil das dem Bedürfnis der Angehörigen entspreche.
Die Enquete-Kommission sei eine gute Idee und sehr sinnvoll, kommentierte die CDU/CSU-Bundestagsabgeordnete Simone Borchardt den BDI-Vorstoß. Man müsse das Ergebnis letztendlich aber auch umsetzen. Bisher könne sie jedenfalls nicht erkennen, dass es große Diskussionen im Gesundheitsausschuss oder sonstwo gebe, um das Pflegeproblem zu lösen. Sie unterstelle nicht Untätigkeit, so Borchardt, doch man wisse wohl nicht, wie man diesen gordischen Knoten zerschlagen könne. „Wir brauchen mutige Politiker, denn so kann es nicht weitergehen.“
Pflegebedürftigkeit zu verhindern, ist primäres Ziel
Die Internistinnen und Internisten allgemein und die Geriaterinnen und Geriater im Besonderen werden im BDI-Papier als „Eckpfeiler in der Versorgung älterer und gebrechlicher Menschen“ beschrieben. Die Innere Medizin habe wie kein anderes Fachgebiet eine ganzheitliche Sicht auf die ambulante und stationäre Patientenversorgung und den Anspruch, eine Synthese aus Spitzenmedizin und Menschlichkeit zu finden, heißt es.
Prof. Dr. Michael Denkinger, President-elect der Deutschen Gesellschaft für Geriatrie, bemerkte: Der große Unterschied der Geriatrie zu anderen Fachdisziplinen sei, dass sie funktionsorientiert arbeite. Es werde primär danach geschaut, wie selbsthilfefähig ein Mensch sei, welche Aktivitäten des täglichen Lebens er noch schaffe, was erreicht werden könne.
Das fordert der BDI in seinem Positionspapier Altersmedizin
- Eine offene gesellschaftliche Diskussion über die Herausforderungen des Alterns und des demografischen Wandels führen.
- Den Fokus auf den Erhalt der Funktionalität und die Selbsthilfefähigkeit der Patientinnen und Patienten legen, geriatrische Inhalte in die internistische Basisweiterbildung integrieren und einen Schwerpunkt Geriatrie im Gebiet Innere Medizin unter Beibehaltung der Zusatzweiterbildung setzen.
- Den Blick auf Patientenautonomie und -wünsche richten und Prävention auch im höheren Alter fördern.
- Eine öffentliche Diskussion über den Umgang mit Sterbewünschen im Alter führen. Menschen im höheren Lebensalter und in palliativer Situation sollten alle Möglichkeiten einer palliativen Therapie erhalten.
Die Pflegebedürftigkeit zu verringern sei das primäre Ziel. „Und die Medizin, die dahinter steckt, die können wir als Ärztinnen und Ärzte, als Internistinnen und Internisten gut abbilden“, betonte Prof. Denkinger. Das sei immer auch Teamplay. In der Pflege stecke viel Potenzial hinsichtlich Aktivierung. Gebraucht würden Therapeutinnen und Therapeuten genauso wie Sportvereine.
Kritisch sah der Geriater die fehlende strukturierte Prävention. Am Wissen mangele es nicht. Auch kognitiv eingeschränkte, gestürzte Patientinnen und Patienten mit Gesprächen zu begleiten oder zu therapieren, sei möglich. Es gebe jedoch zu wenige niedrigschwellige Angebote, z. B. in den Sportvereinen. Man müsse mehr in die Quartiere gehen und Strukturen aufbauen. „Ich glaube, da gibt es viele gute Ideen, die im Augenblick von der Regierung ignoriert oder ausgeblendet werden“, so Prof. Denkinger.
„Man muss in diesem Bereich unbedingt mehr tun“, bestätigte auch Antje Kapinsky, Abteilungsleiterin Politik und Selbstverwaltung beim Verband der Ersatzkassen. „Das Finanzierungsdefizit spiegelt ein Versorgungsdefizit wider, das wir schon in der Pflegeversicherung sehen.“ Die Politik mühe sich daran ab. Es sei jedoch unverzichtbar, in der Versorgung der älteren und hochbetagten Menschen mehr zu tun.
„Wir müssen strukturieren“, erklärte Kapinsky, „das Thema ist multidimensional.“ Als ein riesiges Thema hierbei bezeichnet sie die Krankenhausreform. Strukturen könnten nicht so bleiben, wie sie seien. Das Problem lasse sich nicht dadurch lösen, immer mehr draufzusatteln, wie es jetzt seit vielen Jahren in der Gesundheitspolitik getan werde.
Quelle: BDI-Hauptstadtforum