Leid wird leider ungerecht verteilt
Das Leben ist kein Ponyhof. Das Schicksal ist ein mieser Verräter und würfelt nicht. Ich bin bereit, für jeden dieser Sprüche einen Euro ins „Phrasenschwein“ zu werfen. Aber manchmal denke ich unwillkürlich an sie, wenn es wieder mal einen meiner Patienten schwer gebeutelt hat. Heute war es soweit.
Mich besuchte eine Dame, deren Sohn schwer an Hodenkrebs erkrankt war, diesen bisher aber gut überstanden hat. Einige Jahre vorher hatte sie ihren geliebten Mann bis zu dessen Tod gepflegt – der nicht einmal 60-Jährige war an einem seltenen Karzinom zugrunde gegangen. Nach seinem Tod leuchtete dann etwas Glück in das Leben der Witwe.
Sie konnte sich erneut verlieben, führte berufsbedingt lange eine Fernbeziehung – bis der Partner vor Kurzem zu ihr zog. Nicht aber, weil er in die verdiente Altersrente ging, sondern aus ganz praktischen Gründen: Im Sommer war bei ihm eine ALS diagnostiziert worden, und nun kam er alleine nicht mehr zurecht.
Ich gehe davon aus, dass Gott und der Teufel nicht über den Wolken wetten, wie viel Unglück ein Mensch ertragen kann, und ob er wohl ein netter Mensch bleibt, wenn ihm das Schicksal (oder wer auch immer) richtig einen einschenkt. Aber ich frage mich schon hin und wieder, warum manche herzensguten Menschen, die höchstens hin und wieder einer Fliege etwas zu Leide getan haben, so gebeutelt werden, während andere, die man getrost als „eher unangenehme Zeitgenossen“ beschreiben kann, munter und in Frieden leben dürfen.
Natürlich war das auch heute wieder ein Thema. „Warum immer ich?“, fragte meine Patientin, und ich konnte ihr keine rechte Antwort geben. In anderen Fällen fällt mir das schon leichter: „Warum muss ausgerechnet ich eine Lungenentzündung kriegen?“ fragte mich neulich ein Mann mittlerer Jahre. „Ich habe doch nie etwas!“ „Vielleicht, weil Du Dir nie Ruhe gönnst und rauchst“, dachte ich im Stillen, sagte aber laut: „Warum sollte denn jemand, der dauernd mit irgendwelchen Krankheiten zu kämpfen hat, jetzt auch noch eine Lungenentzündung bekommen? So ist es doch ein bisschen gerechter verteilt“. Das widersprach zwar seinem leicht narzisstischen Weltbild, war aber ein Anlass für eine interessante Diskussion.
Nun aber zurück zu meiner geplagten Patientin von heute. Bei ihr hätte das Schicksal ruhig ein bisschen zurückhaltender sein können. „Leider wird Leid nicht gerecht verteilt“, sagte ich ihr, „und es hat keinen Sinn, darüber nachzugrübeln, warum so ein Haufen bei Ihnen gelandet ist. Mit Sicherheit nicht, weil Sie es verdient hätten! Lassen Sie uns Ihre verbliebene Kraft dafür verwenden, darüber nachzudenken, was wir jetzt tun können“. Das haben wir dann gemacht.
Kurze Zeit später kam eine junge Dame hereingerauscht: „Ich ver-stehe das gar nicht“, klagte sie. „Ich bin schrecklich erkältet! Dabei bin ich das nie, ich war jahrelang nicht krank!“ Auch nach der Untersuchung war sie immer noch fassungslos, dass ihr ein so schweres Schicksal auferlegt wurde. Sie, die doch immer gesund war und ein Anrecht darauf zu haben glaubte, dass es immer so bliebe.
Ich bin auch nicht gerne krank. Der Zeitpunkt passt mir nie (ich könnte mir auch keinen passenden Zeitpunkt vorstellen), die Art und Menge der Erkrankungen gefallen mir genauso wenig. Obgleich ich weiß, dass andere wahrhaftig viel ernster, viel öfter und viel nachhaltiger erkranken. Aber auch ich denke in der Tiefe meines egozentrischen Herzens, dass ich eine Krankheit einfach nicht verdiene. Darum habe ich einiges an Verständnis für jene angefressenen Warum-ich-Frager. Mehr als für jene, die hinter jedem Kopfschmerz einen Hirntumor und hinter jeder Blähung Darmkrebs vermuten. Deren „Warum ich?“ beantworte ich kurz mit: „Weil Krankheiten zum Leben dazugehören. Dies aber ist zum Glück nur eine Befindlichkeitsstörung“. Bleiben Sie gesund!