Gesundheitspolitik Liberale sollen sich für Werbeschranken einsetzen
Die „Dritte Halbzeit“ nach jedem Spiel zwischen FC Diabetologie und FC Bundestag bietet Raum für gesundheitspolitische Diskussionen, an der Politiker*innen verschiedener Parteien teilnehmen. Zuletzt war es im Juni so weit, wie immer organisiert von diabetesDE – Deutsche Diabetes-Hilfe, und es ging um den Kinderschutz durch Werbebeschränkungen und die EU-weite Einführung des Nutri-Scores. Für Kopfschütteln sorgten damals die Argumente von Dr. Gero Hocker, Sprecher im Ausschuss für Landwirtschaft und Ernährung der FDP-Bundestagsfraktion (siehe diabetes zeitung 7/8, S. 21). Hockers Äußerungen waren mit ein Anlass für den jetzt herausgegebenen Offenen Brief.
Konsens in Wissenschaft und Gesellschaft – aber ohne die FDP
Die unterzeichnenden Organisationen appellieren darin an FDP-Parteichef Christian Lindner und die übrige Parteispitze, die von Bundesernährungsminister Cem Özdemir (Grüne) geplanten Werbeschranken für Lebensmittel mit einem hohen Zucker-, Fett- oder Salzgehalt zu unterstützen.
Mit „großer Sorge“ blicke man auf die ablehnenden Äußerungen von Parteivertreter*innen der FDP zu den Plänen für Kinderschutz, heißt es in dem Brief, den zahlreiche Verbände wie medizinisch-wissenschaftliche Fachgesellschaften, Kinderrechtsorganisationen, Eltern- und Pädagogikverbände, Verbraucherschutz- und Ernährungsorganisationen sowie Ärzteverbände und Krankenkassen unterzeichnet haben. Umfassende Werbeschranken für unausgewogene Lebensmittel seien ein wichtiges Instrument zur Förderung einer gesunden Ernährung bei Kindern, mahnt das Bündnis. Mit ihrer Blockadehaltung stelle sich die FDP gegen den einhelligen Konsens in der Wissenschaft und Zivilgesellschaft.
Argumentieren die Liberalen gegen ihre eigenen Interessen?
„Die Blockadehaltung der FDP beim Kinderschutz wirft kein gutes Licht auf die Partei und steht im Widerspruch zum liberalen Leitbild der Chancengerechtigkeit“, erklärt Barbara Bitzer, Geschäftsführerin der DDG und Sprecherin der Deutschen Allianz Nichtübertragbare Krankheiten (DANK). „Möglichst allen Kindern ein gesundes Aufwachsen zu ermöglichen und ernährungsbedingte Krankheiten zu verhindern, muss im ureigenen Interesse einer Wirtschaftspartei liegen. Werbeschranken für Ungesundes könnten einen Beitrag dafür leisten, wenn die FDP nicht länger auf der Bremse steht“, fordert Bitzer.
Anders als FDP-Vertreter*innen es darstellten, seien Werbeschranken für ungesunde Lebensmittel weder eine Beschneidung der persönlichen Freiheit noch staatliche Bevormundung. Vielmehr beeinflusse Werbung für unausgewogene Produkte „nachweislich die Präferenzen, das Kaufverhalten und das Essverhalten von Kindern in negativer Weise“, schreiben die Organisationen in dem Offenen Brief.
Offener Brief an die Fdp-Parteispitze
61 Organisationen haben den Offenen Brief unterzeichnet. Darunter:
AOK-Bundesverband, Arbeiterwohlfahrt Bundesverband (AWO), Berufsverband der Kinder- und Jugendärzte (BVKJ), Berufsverband Deutscher Psychologinnen und Psychologen (BDP), Bundeszahnärztekammer (BZÄK), Deutsche Adipositas-Gesellschaft (DAG), Deutsche Allianz Nichtübertragbare Krankheiten (DANK), Deutsche Diabetes Gesellschaft (DDG), Deutsche Diabetes Stiftung (DDS), Deutsche Gesellschaft für Ernährungsmedizin (DGEM), Deutsche Gesellschaft für Kardiologie (DGK), Deutsche Gesellschaft für Kinder- und Jugendmedizin (DGKJ), Deutsche Gesellschaft für Nephrologie (DGfN), Deutsche Krebshilfe, Deutsche Liga für das Kind, Deutsche Umwelthilfe (DUH), diabetesDE – Deutsche Diabetes-Hilfe, foodwatch Deutschland, Slow Food Deutschland, Stiftung Kindergesundheit, Verband der Diabetes-Beratungs- und Schulungsberufe in Deutschland (VDBD), Verband der Diätassistenten (VDD), Verbraucherzentrale Bundesverband (vzbv).
„Wenn Kinder und Jugendliche – in Folge einer Regulierung – weniger Werbung für ungesunde Lebensmittel ausgesetzt werden, stärkt das die souveräne und freie Entscheidung der Familien über die Ernährungsweise ihrer Kinder“, so das Bündnis. Die FDP-geführten Ministerien blockieren seit Monaten das im Koalitionsvertrag vereinbarte Gesetzesvorhaben von Bundesernährungsminister Cem Özdemir in der Ressortabstimmung. Führende FDP-Vertreter*innen machen zudem öffentlich Stimmung gegen die Pläne.
„Deutschland hat mit der UN-Kinderrechtskonvention das Recht des Kindes auf das erreichbare Höchstmaß an Gesundheit anerkannt – es ist an der Zeit, auch im Bereich der Lebensmittelwerbung danach zu handeln. Die Ampel-Koalition sollte Kinder umfassend vor schädlichen werblichen Einflüssen schützen. Das ist keine Frage der Eigenverantwortung, Kinder sind schließlich keine kleinen Erwachsenen“, ergänzt Oliver Huizinga, er ist Politischer Geschäftsführer der Deutschen Adipositas-Gesellschaft (DAG).
FDP-Blockade führte schon zu Zugeständnissen
Mit ihrer Blockade konnten die Liberalen dem Ernährungsminister bereits Zugeständnisse abringen: Eigentlich hatte Özdemir geplant, die Werbung für unausgewogene Lebensmittel in TV und Hörfunk tagsüber zwischen 6 und 23 Uhr grundsätzlich zu untersagen. Auf Druck der FDP beschränkt sich die Regelung nun wochentags nur noch auf die Abendstunden, wenn besonders viele Kinder Medien nutzen. Auch für Plakatwerbung soll es lediglich eine 100-Meter-Bannmeile um Kitas und Schulen, nicht aber um Spielplätze und Freizeiteinrichtungen geben. Die FDP will jedoch auch diesen Kompromissvorschlag Özdemirs nicht unterstützen.
„Umfassende Werbeschranken für Ungesundes sind überfällig und dürfen nicht an einem falsch verstandenen Freiheitsbegriff scheitern. Ein Großteil der Verbraucher*innen befürwortet umfangreiche Regelungen zum Schutz der Kinder. Wer das Vorhaben als Bevormundung diskreditiert, vertritt nicht die Mehrheit und schon gar nicht die Eltern.“, so Ramona Pop, Vorständin des Verbraucherzentrale Bundesverbands (vzbv).
Auch die WHO fordert verbindliche Werbeschranken
Laut einer Studie der Universität Hamburg sehen mediennutzende Kinder zwischen 3 und 13 Jahren pro Tag im Schnitt 15 Werbespots für ungesunde Lebensmittel. 92 Prozent der gesamten Werbung, die Kinder wahrnehmen, vermarktet ungesunde Lebensmittel wie Fast Food, Snacks oder Süßigkeiten. Allein die Süßwarenindustrie in Deutschland hat 2022 knapp eine Milliarde Euro für Werbung ausgegeben.
Um Fehlernährung bei Kindern zu bekämpfen, empfahl die WHO erst kürzlich, Junkfood-Werbung gesetzlich einzuschränken. Der WHO zufolge müssen Werbeschranken verbindlich sein, Kinder aller Altersgruppen schützen und auf konkreten Grenzwerten für Zucker, Fett und Salz basieren. Die Beschränkungen sollten die Exposition von Kindern gegenüber Werbung für Ungesundes verringern und dürften nicht allein im Umfeld von Kindersendungen greifen.
„Kinder leben nicht in einer Blase. Etwa jede dritte der bei Kindern unter 14 Jahren beliebtesten Sendungen ist keine klassische Kindersendung, sondern ein Familienfilm, eine Castingshow oder eine Sportübertragung. Gerade in der abendlichen Primetime überschüttet die Lebensmittelindustrie Kinder mit Junkfood-Werbung – genau hier müssen die Werbeschranken greifen, sonst ist nichts gewonnen“, ergänzt Luise Molling von der Organisation foodwatch.