Lebensmittelwerbung Politischer Stillstand beim Kinderschutz

Autor: Nicole Finkenauer

Beim Sommerempfang der Grünen kam es zu einem kurzen Treffen zwischen Bundeskanzler Olaf Scholz und DDG Geschäftsführerin Barbara Bitzer. Auf die Antwort auf den offenen Brief warten die mehr als 35 Organisationen u. Verbände jedoch noch immer. Beim Sommerempfang der Grünen kam es zu einem kurzen Treffen zwischen Bundeskanzler Olaf Scholz und DDG Geschäftsführerin Barbara Bitzer. Auf die Antwort auf den offenen Brief warten die mehr als 35 Organisationen u. Verbände jedoch noch immer. © Deutsche Diabetes Gesellschaft (DDG)

Vor mehr als einem Jahr wurden Pläne für ein Gesetz für Kinderschutz in der Lebensmittelwerbung vorgestellt. Ein Bündnis aus mehr als 35 Organisationen aus Medizin, Gesundheitsförderung, Wissenschaft, Verbraucher- sowie Kinder- und Jugendschutz appelliert in einem offenen Brief an Kanzler Olaf Scholz, endlich aktiv zu werden. Schon aktiv geworden sind neun Bundesländer: Sie fordern die Zuckersteuer auf Softdrinks.

Der Bundeskanzler wird in dem Schreiben aufgefordert, das Gesetz zur Beschränkung von Werbung für ungesunde Lebensmittel, die sich an Kinder und Jugendliche richtet (KLWG), konsequent und wirkungsvoll umzusetzen. Immerhin ist schon mehr als ein Jahr vergangen, seit Bundesernährungsminister Cem Özdemir die Eckpunkte und einen ersten Referentenentwurf zum Kinderschutz in der Lebensmittelwerbung vorgestellt hat. Nicht vergessen werden darf dabei, dass die Ampel-Koalition im Koalitionsvertrag den klaren Auftrag formuliert hat, den Schutz der Kinder vor Werbung für Lebensmittel mit hohem Zucker-, Fett- und Salzgehalt sicherzustellen.

Laut einer Studie der Universität Hamburg sehen mediennutzende Kinder zwischen drei und 13 Jahren pro Tag im Schnitt 15 Werbespots für ungesunde Lebensmittel. 92 % der gesamten Werbung, die Kinder wahrnehmen, vermarktet ungesunde Lebensmittel wie Fast Food, Snacks oder Süßigkeiten. Um Fehlernährung bei Kindern zu bekämpfen, empfiehlt die Weltgesundheitsorganisation (WHO), Junkfood-Werbung gesetzlich einzuschränken.

Eltern müssen gegen eine Milliardenindustrie kämpfen

„Die Regelungen müssen umfassend sein und dort wirken, wo Kinder Werbung ausgesetzt sind – sei es bei TV-Werbung, Außenwerbung oder Influencer-Werbung in den sozialen Medien“, heißt es im offenen Brief. „Die omnipräsente Werbung für ungesunde Lebensmittel hat fatale gesundheitliche Folgen. Eltern müssen tagtäglich gegen eine Milliardenindustrie ankämpfen, die ihre Kinder mit geschickten Marketingtricks lockt. Die Gesundheit der Kinder darf nicht zwischen den Interessen der Industrie zerrieben werden. Die Politik muss den Stillstand beenden und die Gesundheit der Jüngsten in unserer Gesellschaft durch ein starkes Gesetz schützen.“

Das Bündnis fordert den Bundeskanzler eindringlich auf, sich dafür einzusetzen, dass das KLWG als wichtige Maßnahme für mehr Kindergesundheit ohne weitere Verzögerungen und Abschwächungen umgesetzt wird. „Der Schutz der Kindergesundheit muss Vorrang haben vor den wirtschaftlichen Interessen der Werbeindustrie und der Hersteller ungesunder Lebensmittel“, so das abschließende Plädoyer der Verbände. Unterzeichnet wurde der offene Brief von mehr als 35 Verbänden, u. a. von DANK, DDG, VDBD, diabetesDE – Deutsche Diabetes-Hilfe, Bundesärztekammer, der Deutschen Gesellschaft für Kardiologie und der Deutschen Gesellschaft für Kinder- und Jugendmedizin.

Und was ist mit der Zuckersteuer?

Außer den Werbebeschränkungen setzen sich DANK (Deutsche Allianz Nichtübertragbare Krankheiten) und DDG auch für die Einführung einer Zuckersteuer ein. Ein klares Argument für eine solche Besteuerung liefert ein Blick über den Ärmelkanal: In Großbritannien gibt es seit sechs Jahren eine Steuer, die die Hersteller von Softdrinks für stark zuckerhaltige Getränke zahlen müssen. Durch die Staffelung der Besteuerung nach Zuckergehalt ist die Steuer für die Unternehmen ein Anreiz, den Zuckergehalt zu reduzieren – und genau das ist geschehen: 2019 enthielten nur noch 15 % der Softdrinks mehr als 5 g Zucker pro 100 ml, 2015 waren es noch fast 50 %. Im Jahr nach Einführung der Steuer sank der Zuckerkonsum bei Kindern um 5 g, bei Erwachsenen um 11 g pro Tag.

Mittel- und langfristige Auswirkungen der Zuckersteuer

Wie wird sich die Zuckersteuer mittel- und langfristig auf Karies, Adipositas, Lebenserwartung und Lebensqualität von Kindern und Jugendlichen in England auswirken? Eine aktuelle Modellierung von Forschenden der Universität Cambridge ergab, dass sich vor allem für Kinder und Jugendliche in den am stärksten benachteiligten Gebieten die größten gesundheitlichen Vorteile ergeben werden, aber auch Kinder und Jugendliche in weniger benachteiligten Gebieten vom reduzierten Zuckerkonsum profitieren werden.

Cobiac LJ et al. PLoS Med. 2024 Mar 28; 21(3): e1004371; doi: 10.1371/journal.pmed.1004371

Kein Verstecken mehr, kein Wegdiskutieren

„Wegdiskutieren und verstecken gilt jetzt nicht mehr: Die Bundesregierung muss die Getränkeproduzenten endlich in die Pflicht nehmen, ihre Rezepturen anzupassen und Zucker in Cola, Limo und Co. zu reduzieren. Die Strategie der freiwilligen Zuckerreduktion ist gescheitert. Die aktuelle und sehr lebhafte Debatte rund um die Zuckersteuer beweist einmal mehr, dass wir mehr politischen Mut und Willen brauchen, um verbindliche Maßnahmen anzustoßen, die auch die Produzenten in die Pflicht nehmen. Eine Zuckersteuer wirkt, wenn sie bei den Herstellern ansetzt und sie dazu motiviert, den Zuckergehalt zu reduzieren“, sagt dazu DANK-Sprecherin und DDG Geschäftsführerin Barbara Bitzer.

Neun Bundesländer fordern eine Zuckersteuer

Umso erfreulicher ist eine Initiative von neun Bundesländern, die Mitte Juni gestartet ist: Aus einem Protokollvermerk der Verbraucherschutzministerkonferenz geht hervor, dass Brandenburg, Bremen, Hamburg, Mecklenburg-Vorpommern, Niedersachsen, Rheinland-Pfalz, Sachsen, Thüringen und das Saarland den Bund auffordern, eine Steuer auf besonders zuckerhaltige Getränke zu prüfen.

Dazu Barbara Bitzer: „Während sich die Bundesregierung hinter einer mutlosen Ernährungsstrategie versteckt, die sich in wirkungslosen Absichtsbekundungen verliert, geht die Mehrheit der Bundesländer wegweisend voran. Hoffentlich nutzt die Bundesregierung die politische Sommerpause, um die Initiative der Bundesländer ernsthaft zu prüfen.“