Hersteller werben gezielt bei Kindern für ungesunde Produkte
Das „Große Wimmelbuch“ ganz umsonst erhalten – toll, oder? Dazu muss man nur auf die Webseite von Ferrero gehen und dort einen Code eingeben. Um den zu haben, muss man natürlich zuvor ein Überraschungsei kaufen. Welches Kind möchte das nicht?
Mit solchen Beispielen illustriert der Ökonom PD Dr. Tobias Effertz von der Universität Hamburg eine neue Studie zum Ausmaß von Werbung für ungesunde Produkte in Internet und Fernsehen. Das erschreckende Ergebnis: Ein mediennutzendes Kind sieht in Deutschland im Schnitt pro Tag 15 Werbespots und -anzeigen für ungesunde Produkte, fünf davon im Internet und zehn im TV. Wissenschaftler fordern nun ein Verbot solcher Werbung, um Kinder vor falscher Ernährung und Übergewicht zu schützen.
Dass Werbung die Aufnahme ungesunder Lebensmittel fördert, ist durch zahlreiche Studien erwiesen. Bisher fehlten aber aktuelle Daten darüber, welchem quantitativen Werbedruck für ungesunde Lebensmittel Kinder hierzulande ausgesetzt sind. Diese Lücke schließt die Studie, die unter anderem finanziert wurde von der Deutschen Allianz Nichtübertragbare Krankheiten DANK, der DDG, dem AOK-Bundesverband, der Deutschen Diabetes Stiftung sowie fünf weiteren Fachgesellschaften und Organisationen.
Studie orientiert sich an den Grenzwerten der WHO
Die Analyse fußt auf Daten von Nielsen Media Research zum Internetsurfverhalten von 6- bis 13-Jährigen in Deutschland im Zeitraum 1. März 2019 bis 29. Februar 2020, also vor der Coronakrise. Dabei wurde auch die Anzahl der wahrgenommenen Werbungen auf Internetseiten erfasst. Zusätzlich analysierte Dr. Effertz 315 Videos auf YouTube zu 33 Produkten prominenter Lebensmittelmarken.
Die Daten zur TV-Werbung stammen aus einem Datensatz der Universität Hamburg aus den Monaten Juni bis September 2019 mit 8269 Werbespots auf den fünf wichtigsten Fernsehsendern für Kinder: Disney Channel, Nickelodeon, Pro7, RTL und Super RTL (KIKA von ARD und ZDF zeigt keine Werbung). Die Produkte wurden als gesund oder ungesund klassifiziert anhand des Nutrient Profile Model (NPM) der WHO, das eigens für den Bereich Kinder entwickelt wurde. Es legt für die einzelnen Inhaltsstoffe Grenzwerte für Kinderprodukte fest, bei deren Überschreiten keine Vermarktung an Kinder erfolgen soll.
Der Werbedruck auf Kinder wurde im TV deutlich erhöht
Zusammenfassend lässt sich sagen: 92 % der Produkte, die Kinder in der Lebensmittelwerbung in TV und Internet sehen, sollten gemäß NPM nicht an Kinder vermarktet werden. Zugleich richten sich aber z.B. im Fernsehen 70 % der von Kindern gesehenen Spots durch ihre Aufmachung speziell an Kinder. Häufige Produkte waren in der Studie das McDonald’s Happy Meal, Ferdi-Fuchs-Würstchen und der Schokopudding Monte von Zott.
Besonders besorgniserregend: Kinder sehen heute pro Stunde mehr TV-Werbung als früher. Die absolute Zahl der gesehenen Spots pro Tag ist zwar seit 2007 etwa gleich geblieben. Doch in dieser Zeit hat die Fernsehdauer um 21 % abgenommen (berechnet auf die Kinder, die überhaupt fernsehen). Die Unternehmen haben also den Werbedruck auf Kinder im TV deutlich erhöht, um sie in der kürzeren Zeit zu erreichen.
Im Internet sieht es nicht besser aus. Vor allem Facebook wird massiv genutzt, da Postings dort die Unternehmen nichts kosten. Rund 62 % aller an Kinder gerichteten Lebensmittelposts auf Facebook stammen von McDonald’s. Weitere häufige Produkte waren Kentucky Fried Chicken, Ferrero, der Schokoriegel KitKat von Nestlé und Pringles Chips. Zusätzlich locken die Firmen die Kinder auf ihre eigenen Webseiten und versuchen sie dort durch Spiele oder ähnliches lange zu halten. Auch hier bewerben 85 % der Seiten ungesunde Produkte.
Eine neue Form, Kinder zu beeinflussen, findet sich auf YouTube. 70 % der Lebensmittelwerbung erfolgt dort über Influencer. Diese oft jungen Darsteller wollen ihre Präsentationen zwar nicht als Werbung verstanden wissen, sondern sprechen meist von „Produkttests“. Tatsächlich werden aber Produkte angepriesen. Durch das Format ist die werbliche Wirkung sogar eher noch stärker. Knapp 70 % der von den Influencern vorgestellten Produkte sollten gemäß NPM nicht an Kinder vermarktet werden, wiesen jedoch Elemente des Kindermarketings auf. Beliebte Inhalte waren etwa Spiele und Wettbewerbe mit Produkten (z.B. „alle Produkte von Burger King bestellen und essen“, „24 Std. nur Pringles Chips essen“), Unboxing (Auspacken) und Mukbang (Videos, die die Influencer beim Verzehr der Produkte zeigen). Einmal baute sogar ein junger Influencer zu Hause eine McDonald’s-Filiale nach.
Nimmt man alle Medienformen zusammen und berücksichtigt die durchschnittliche Nutzungsdauer von Kindern und die Senderpräferenzen, dann sieht ein Kind in Deutschland pro Tag im Durchschnitt 15,48 Werbespots und -anzeigen für ungesunde Produkte, davon 5,14 im Internet und 10,34 im TV. Kinder, die die Medien gar nicht nutzen, wurden nicht berücksichtigt. Die Zahlen zeigen: Die freiwilligen Vereinbarungen zur Reduktion von Kinderwerbung für ungesunde Produkte zeigen keine Wirkung. „Diese Werbung nimmt tendenziell sogar noch zu“, so Dr. Effertz. „Daher besteht eine Notwendigkeit gesetzlicher Regulation, um den Werbedruck auf Kinder zu verringern.“
Auch die WHO empfiehlt ein Verbot von an Kinder gerichteter Werbung für ungesunde Lebensmittel. Viele Länder haben dies bereits umgesetzt, z.B. mit einem generellen Verbot vor 21 Uhr. Rechtlich ließe sich das auch für Deutschland relativ leicht umsetzen. Werbung für ungesunde Produkte wäre weiterhin möglich, jedoch nicht dort, wo sie viele Kinder erreicht werden, und nicht mit einer auf Kinder gerichteten Aufmachung. „Wichtig wäre, dass die Regel alle Massenmedien umfasst“, empfiehlt Dr. Effertz, „und insbesondere das Influencermarketing speziell reguliert, indem man die sozialen Medienplattformen einbindet“. Das zu schützende Rechtsgut, „Gesundheit der Kinder“ wiege im Zweifel höher als die Meinungs- und Berufsfreiheit der Lebensmittelindustrie.
„Verbot muss kommen, das ist die Politik den Kindern schuldig“
„Diese Werbung torpediert meine Arbeit, die Arbeit von Lehrern und Erziehern und besonders die der Eltern“, sagt Dr. Sigrid Peter, Kinder- und Jugendärztin in Berlin und stellv. Vorsitzende des Berufsverbandes der Kinder- und Jugendärzte. Für übergewichtige Kinder sei es ohnehin nicht leicht, auf Dauer wieder ihr Normalgewicht zu erreichen. „Sie brauchen so wenige Versuchungen wie möglich. Den 15 Werbespots pro Tag für süßes und fettes Essen können sie aber kaum entgehen.“
Auch DANK und die DDG fordern ein Verbot von an Kinder gerichteter Werbung für ungesunde Produkte. „Es geht darum, die Gesundheit der Kinder zu schützen“, sagt Barbara Bitzer, DANK-Sprecherin und Geschäftsführerin der DDG. „Warum sollten Erwachsene mehr Rücksicht auf die Interessen der Hersteller als auf die Gesundheit ihrer Kinder nehmen? Deshalb muss ein Verbot jetzt kommen. Das ist die Politik den Kindern schuldig.“