DGIM-Sonderstatus entzogen NS-Täter als Ehrenmitglieder?

Gesundheitspolitik Autor: Isabel Aulehla

Die Eröffnung des 47. Kongresses der DGIM im Jahr 1935, am Rednerpult steht der damalige Reichsärzte­führer Gerhard Wagner. Nach der Machtergreifung der Nationalsozialisten schaltete die DGIM sich in vorauseilendem Gehorsam gleich. Viele ihrer Kongresse griffen vom NS-Staat propagierte Themen auf. Die Eröffnung des 47. Kongresses der DGIM im Jahr 1935, am Rednerpult steht der damalige Reichsärzte­führer Gerhard Wagner. Nach der Machtergreifung der Nationalsozialisten schaltete die DGIM sich in vorauseilendem Gehorsam gleich. Viele ihrer Kongresse griffen vom NS-Staat propagierte Themen auf. © DGIM Wiesbaden

Die Deutsche Gesellschaft für Innere Medizin arbeitet ihre NS-Vergangenheit weiter auf und entzieht fünf Ärzten die Ehrenmitgliedschaft. Doch auch auf die Jahre nach 1945 blickt die Fachgesellschaft kritisch – denn in dieser Zeit verlieh man den NS-Tätern erst den ­Ehrenstatus.

Während des Nationalsozialismus haben auch viele Mediziner sich schuldig gemacht. Einige verschrieben sich der vom NS-Staat propagierten „Rassenhygiene“, führten Zwangssterilisationen durch oder ­initiierten grausame Experimente an KZ-Häftlingen. Sie beteiligten sich an der Tötung von Menschen mit Behinderung oder Personen mit psychischen Erkrankungen. Andere Ärzte begingen keine Medizinverbrechen, nutzten aber die Verfolgung von Kollegen für ihre eigene Karriere, huldigten Adolf Hitler und leisteten vorauseilenden Gehorsam. Wieder andere sahen weg und schwiegen. Die Liste ist unvollständig.

Die Deutsche Gesellschaft für Innere Medizin (DGIM) geht nun einen neuen Schritt, um die Aufarbeitung ihrer NS-Vergangenheit fortzusetzen: Sie erkennt fünf Ehrenmitgliedern, die sich zwischen 1939 und 1945 schuldig gemacht haben, die Ehrenmitgliedschaft ab.

Zeichen für Demokratie und Menschlichkeit

„Wir wollen ein deutliches Zeichen setzen in einer Zeit, in der Menschenwürde, Freiheit und Demokratie für manchen keine Selbstverständlichkeit mehr sind“, betont der Vorsitzende Professor Dr. Markus Lerch.

Namentlich handelt es sich bei den Ärzten um Alfred Schittenhelm, Alfred Schwenkenbecher, Hans ­Dietlen, Siegfried Koller und Georg Schaltenbrand. „Sie haben bewusst Kollegen, anderen Mitgliedern unserer Fachgesellschaft oder einfach anderen Menschen aufgrund ihrer Herkunft geschadet. Daher sind sie für die DGIM als Ehrenmitglieder nicht tragbar“, begründet Prof. Lerch die Entscheidung.

Die NS-Taten der ehemaligen Ehrenmitglieder

Der Historiker PD Dr. Ralf Forsbach vom Institut für Ethik, Geschichte und Theo­rie der Medizin der Uni Münster erklärte auf der Pressekonferenz der DGIM, wie sich die Ärzte, denen die Ehrenmitgliedschaft entzogen wurde, während des Nationalsozialismus schuldig gemacht haben. Die Taten von Alfred Schwenkenbecher, Georg Schaltenbrand und weiteren belasteten Ärzten können auf der Website des DGIM-Projekts „Gedenken und Erinnern“ eingesehen werden. Hier beispielhaft Dr. Forsbachs Erläuterungen zu den Medizinern ­Schittenhelm, Dietlen und Koller: Alfred Schittenhelm wurde 1949 Ehrenmitglied der DGIM, obwohl er ein Hauptverantwortlicher und ein Profiteur der Machtübernahme durch die Nationalsozialisten war. Er gehörte seit dem 1. Mai 1933 der NSDAP an, zudem war er Mitglied der SS und seit 1935 SS-Sturmbannführer im Sanitätsdienst. An der Spitze der DGIM stand Schittenhelm für Anpassung an die Diktatur in vorauseilendem Gehorsam, für Selbstgleichschaltung. Ohne Skrupel und erfolgreich betrieb er die Absetzung seines als Juden verfolgten Vorgängers im Amt des DGIM-Vorsitzenden, Leopold Lichtwitz, der nach New York fliehen musste. Vor der Reichstagswahl am 5. März 1933 rief er zur Wahl der NSDAP auf. Er befürwortete die „NS-Rassenhygiene“ und wollte die „Rassenforschung“ auch in von ihm geführten Instituten – zunächst in Kiel, dann in München – vorantreiben. Das Thema „Rasse“ war ein Schwerpunkt des von ihm geleiteten Kongresses von 1934. Hans Dietlen war im ersten Kriegsjahr 1939/40 Vorsitzender der DGIM. Das ­NSDAP-Mitglied hat sich der Zwangssterilisierungspolitik der Nationalsozialisten zur Verfügung gestellt. Als renommierter Röntgenologe war er „zur Durchführung von Unfruchtbarmachungen“ durch „Strahlenbehandlung“ berechtigt. Unter Dietlens Verantwortung als Ärztlicher Direktor geschahen am Saarbrücker Bürgerhospital Verbrechen. Eine Zwangsabtreibung an der Tochter eines Widerstandskämpfers mit Todesfolge für Mutter und Kind ist dokumentiert. In mindestens fünf Fällen wurden junge Frauen mit der rassistischen Begründung zwangssterilisiert, dass sie aus Verbindungen zwischen Saarländerinnen und schwarzen Besatzungssoldaten hervorgegangen waren. In Redebeiträgen auf dem Kongress lobte Dietlen Hitler und die Wehrmacht. Siegfried Koller war ein Medizinstatistiker, der 1978 Ehrenmitglied wurde. In der NS-Zeit wirkte er darauf hin, Statistik als Selektionsinstrument der NS-Rassenhygiene einzusetzen. Er war Mitglied der NSDAP und der SA. 1934 trat er in das Institut für Erb- und Rassenpflege der Universität Gießen ein. Dort habilitierte er sich mit einer Arbeit „Die Auslese im Kampf gegen Erbkrankheiten“. Koller forderte ein verschärftes Vorgehen gegen „Gemeinschaftsunfähige“. Zu diesen zählen in den Worten Kollers „Arbeitsscheue“, „Landesverräter“, „Schmarotzer“, „Rassenschänder“, „Prostituierte“ und „heimliche Juden“. Faktisch zielte diese Forderung auf die Ausweitung und Legitimierung der Praxis der NS-Zwangssterilisierungen von rassistisch ausgegrenzten und politisch missliebig angesehenen Menschen. Ein auf dieser Basis entwickelter Entwurf für ein „Gemeinschaftsfremdengesetz“ (1944) kam nicht zur Umsetzung.

Von zwei weiteren Ehrenmitgliedern, Gustav von Bergmann und Felix Lommel, distanziert sich der DGIM-Vorstand. „Hier besteht weiterer Forschungsbedarf, sodass wir aktuell keine verantwortungsvolle Entscheidung über eine Aberkennung der Ehrenmitgliedschaft treffen können“, so Prof. Lerch.

Vergangenheit wurde lange verdrängt

Bei ihrer Pressekonferenz blickten die Vertreter der DGIM auch kritisch auf die Jahre nach 1945. Denn die Fachgesellschaft ernannte die belasteten Mediziner nicht etwa während der NS-Zeit zu Ehrenmitgliedern, sondern zwischen 1949 und 1978 – ihre Taten waren zum Teil bekannt und dokumentiert. Trotzdem machten die Ärzte teilweise steile Karrieren. Ein kritischer Umgang der DGIM mit ihrer Vergangenheit war nicht immer gegeben: In einem 1982 herausgegebenen Jubiläumsband zum 100-jährigen Bestehen der Fachgesellschaft redigierte man aus den Reden der Vorsitzenden der NS-Zeit ohne Hinweis alle Lobpreisungen an Hitler und die „Neue Ordnung“ heraus, ebenso die Schwerpunktsetzungen der Kongresse in Richtung „Rassenhygiene“ und „Völkische Medizin“. Professor Dr. Georg Ertl, Generalsekretär der DGIM, unter­streicht, es gebe und gab eine gesamtgesellschaftliche Verdrängung. „Die erste Nachkriegsgeneration nach dem zweiten Weltkrieg wuchs in dem verbreiteten Glauben auf, dass ihre Eltern von einer ‚nationalsozialistischen Clique‘ in einen Krieg und ein globales Verbrechen geführt wurden, mit der in der breiten Bevölkerung ein mehr oder weniger weitgehender Dissens bestand.“ Mit den Nürnberger Prozessen und der vermeintlichen „Entnazifizierung“ der Bevölkerung habe man einen „Schlussstrich“ gezogen. Zusätzlich habe es in den Fachgesellschaften „lange Zeit Zurückhaltung gegeben, noch lebende Akteure dieser Zeit zu belasten oder das Andenken Verstorbener gewissermaßen zu beflecken.“ In der unmittelbaren Nachkriegszeit habe meist eine Kontinuität der wissenschaftlichen und medizinischen Karrieren bestanden. Die Schüler belasteter Mediziner hätten ihre Solidarität auch nach Bekanntwerden der „Verstrickungen“ aufrechterhalten. Diese Faktoren trugen dazu bei, dass die DGIM sich erst seit einigen Jahren mit ihrer NS-Vergangenheit beschäftigt. 2013 rief sie die „Leopold-Lichtwitz-Medaille“ ins Leben, ihre wichtigste Auszeichnung. Sie ist nach dem Vorsitzenden der DGIM im Jahr 1933 benannt, der wegen seiner jüdischen Herkunft in die USA emigrieren musste. 2015 beauftragte die Fachgesellschaft dann ein Team unabhängiger Historiker damit, die Geschichte in der Zeit des Nationalsozialismus anhand umfangreicher Quellenstudien aufzuarbeiten. Die Ergebnisse wurden unter anderem in einer Monografie veröffentlicht. Dort heißt es: „Betrachtet man die 30 von 1949 bis 1959 gewählten Ehrenmitglieder der DGIM, so wird man zehn, also genau ein Drittel, als so schwer belastet ansehen müssen, dass sie, eine gewisse geschichtspolitische Sensibilität vorausgesetzt, nicht hätten Ehrenmitglied werden dürfen.“1 Die DGIM erklärte bereits 2015, dass die Ernennung NS-belasteter Mediziner „keinesfalls zu billigen“ gewesen sei. Zu diesem Zeitpunkt sah sie allerdings noch von einer Aberkennung der Ehrenmitgliedschaft ab, „um deutlich zu machen, dass im historischen Bewusstsein bleiben soll, welche Verfehlungen Mitglieder der DGIM im Nationalsozialismus begangen haben.“ Nun, da doch Ehrenmitgliedschaften entzogen werden, will die Fachgesellschaft trotzdem nicht in Vergessenheit geraten lassen, dass die fraglichen Personen überhaupt gewürdigt wurden. In den kommenden Jahren will die DGIM ihre Aufarbeitung weiter fortsetzen. „Die Forschungen gehen weiter, um das Gedenken an die Opfer aufrecht zu erhalten und mahnend daran zu erinnern, wie sich einst Internisten und eine wissenschaftliche Fachgesellschaft in den Dienst einer menschenverachtenden Ideologie stellten“, so Prof. Ertl.

Quelle:
1. Forsbach, R. & Hofer, H. (2018): Internisten in Diktatur und junger Demokratie: Die Deutsche Gesellschaft für Innere Medizin 1933–1970. Berlin: Medizinisch Wissenschaftliche Verlagsgesellschaft.

Medical-Tribune-Bericht

Forsbach, R. & Hofer, H. (2018): Internisten in Diktatur und junger Demokratie: Die Deutsche Gesellschaft für Innere Medizin 1933–1970. Berlin: Medizinisch Wissenschaftliche Verlagsgesellschaft. Forsbach, R. & Hofer, H. (2018): Internisten in Diktatur und junger Demokratie: Die Deutsche Gesellschaft für Innere Medizin 1933–1970. Berlin: Medizinisch Wissenschaftliche Verlagsgesellschaft. © MWV