Kollege KI Ob Melanomerkennung oder Medizinethik: Künstliche Intelligenz holt auf
Künstliche Intelligenz (KI) eröffnet in der Medizin völlig neue Möglichkeiten: Selbstlernende Systeme, die Krankheiten diagnostizieren, Karzinome erkennen, bei der Auskultation unterstützen, Insulinwerte anpassen oder Verwaltungsaufgaben übernehmen.
Doch auch wenn in der Forschung vielversprechende Ansätze erprobt werden – „in die wirkliche klinische Routine hat KI noch keinen Eingang gefunden“, erklärt Prof. Dr. Martin Hirsch, Leiter des Instituts für künstliche Intelligenz in der Medizin der Philipps-Universität Marburg. Am ehesten finde man die Anwendungen derzeit in Geräten zur Bildgebung, jedoch immer versehen mit dem Hinweis, dass die Ergebnisse nicht unbedingt verlässlich seien.
Manche KI kann anhand von Einzelfällen lernen
Für Patientinnen und Patienten sind schon länger einige Anwendungen auf dem Markt. So passen Closed-Loop-Systeme in der Diabetologie Insulinwerte eigenständig an. Manche Apps können ihre Nutzer anhand des Kamerabildes bei physiotherapeutischen Übungen korrigieren. Und der ärztlichen Tätigkeit kommen Apps nahe, die anhand von Symptomen auf eine Erkrankung schließen können, etwa die von Prof. Hirsch entwickelte Anwendung „Ada“.
Hinter der App stehe nicht klassisches Machine Learning anhand Tausender Datensätze, sondern komplexe probabilistische Ansätze, erklärt der Experte. „Wie wahrscheinlich ist es, dass ich die Krankheit habe, wenn ich ein Symptom habe und wie wahrscheinlich ist es, dass ich das Symptom habe, wenn ich die Krankheit habe? Das sind die beiden Wertpaare, die man dazu braucht.“
Der Vorteil: Anders als neuronale Netze benötigen solche Modelle wenige Einzelfälle, um sich umfangreiche Kenntnisse anzueignen. Dass neuronale Netze derzeit überhaupt noch mit etlichen Daten trainiert werden müssen –, was datenschutzrechtlich auf Bedenken stößt – sei der Insuffizienz der bisherigen Algorithmen geschuldet, meint der Experte. Er rechnet in den kommenden Jahren mit effizienteren Algorithmen.
Etabliert sind künstliche Intelligenzsysteme auch in der Arzneimittelentwicklung. „Die Geschwindigkeit, mit der Biontech oder Moderna einen Corona-Impfstoff entwickeln konnten und die Geschwindigkeit, mit der dieser dann an neue Virusvarianten angepasst wurde, ist ohne KI nicht denkbar“, so Prof. Hirsch.
Die Fähigkeiten von KI verblüffen selbst ihn ab und an. Denn auch auf Gebieten, die bislang als originär menschlich galten, schlagen sich die Systeme gut, berichtet er. Beispielsweise konnte ein Sprachmodell mit bestimmten Anweisungen medizinethische Fragen sinnvoll abwägen.
In einer anderen Studie wurden Antworten, die das Sprachmodell ChatGPT hilfesuchenden Patienten gab, als empathischer wahrgenommen als die Antworten der ärztlichen Vergleichspersonen. Doch Prof. Hirsch bezweifelt, dass es so etwas wie „Künstliche Empathie“ geben kann. „Meiner Meinung nach sollte man das verbieten. Wir dürfen nicht Maschinen den Eindruck erwecken lassen, sie würden etwas fühlen, wenn sie es nicht tun.“
Auch die Veröffentlichung des Sprachmodells ChatGPT durch das Unternehmen Open AI zu Beginn des Jahres sieht er kritisch. Das System wirke in seinen Antworten überzeugend und eloquent, obwohl es Fakten teils erfinde und sein eigenes Nichtwissen nicht kommuniziere. Übertragen auf Menschen sei dies das Verhalten eines Betrügers.
In der Ärzteschaft erlebt der Experte inzwischen Offenheit und Neugier gegenüber KI-Systemen. Noch 2017 habe man ihn eher angefeindet, wenn er Vorträge hielt, und das Thema als unseriös verurteilt, erzählt er.
Wie reguliert man ein System, das sich stetig verändert?
Bei allen Chancen, die die Modelle bieten, sei eine gesunde Skepsis aber durchaus angebracht. „Wir müssen sicherstellen, dass eine KI vertrauenswürdig ist, mit unseren Daten gut umgeht und verlässliche Ergebnisse liefert.“
Regulativ unterliegt medizinische KI der Gesetzgebung auf EU- und Bundesebene sowie der DSGVO und dem Medizinproduktegesetz.Doch noch sei kein Umgang mit den Eigenheiten selbstlernender Systeme gefunden, erklärt Prof. Hirsch. Schließlich entwickeln diese sich nach ihrer Zertifizierung weiter.
Der Experte hält es für wichtig, dass die Systeme künftig fähig sind, Tätigkeiten vollständig zu übernehmen. Andernfalls erreiche man keine Arbeitsentlastung. Dass medizinische Fachkräfte in absehbarer Zeit ihre Jobs an eine KI verlieren, glaubt er dennoch nicht.
Wenn die technisierten Aspekte des Fachs von KI erledigt würden, entstehe wieder mehr Zeit für die menschliche Begegnung. „Wir müssen dann dafür sorgen, dass diese Zeit nicht genutzt wird, pro Arzt noch mehr Patienten durchzuschleusen.“
Dies bedeute umgekehrt jedoch auch, dass Medizin umso eher von KI übernommen werden kann, je technischer sie verstanden wird. Unersetzlich bleibe nur der menschliche Kontakt. Insbesondere im globalen Süden oder unterversorgten ländlichen Regionen kann KI eines Tages zudem eine medizinische Versorgung gewähren, die dort bislang nicht existiert.
Seitens der Krankenkassen gibt es erste Signale, dass man den Einsatz von KI zum verpflichtenden Teil ärztlicher Behandlungen machen möchte. Vor dem Verschreiben einer teuren Therapie muss dann möglicherweise eine KI um Zweitmeinung gebeten werden.
Doch auch ein Urteil des Bundesgerichtshofs verpflichte Ärzte, neue Methoden einzusetzen, wenn diese geringere Risiken oder bessere Heilungschancen bieten als die Standardtherapie, gibt Prof. Hirsch zu bedenken. „Von daher tun Ärzte gut daran, die KI, die in ihrem Fachgebiet auf dem Markt kommt, im Blick zu halten.“
Großes Potenzial haben künstliche Intelligenzsysteme beispielsweise in der Diabetologie und bei seltenen Erkrankungen. Was Mediziner auf diesen Gebieten erwartet und wie Prof. Hirsch persönlich zu KI steht, hören Sie in einer neuen Folge von O-Ton Innere Medizin.
Quelle: Medical-Tribune-Bericht
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