Praxis Dr. Frauke Musterfrau
Reflexartig griff ich in Richtung Schublade: „Ich gebe Ihnen mal ein Muster mit“, begann ich, um mich gleich selbst zu unterbrechen. „Das heißt, ich würde gerne, aber ich fürchte, ich habe keines.“ Der Blick in die gähnend leere Schublade bestätigte die Vermutung. In deren hinterster Ecke verkroch sich ein einziges Schächtelchen unbekannter Art – eines von denen mit seltsamem Namen, den keiner aussprechen kann und das ich nicht brauche. „Es tut mir leid, ich bin tatsächlich abgebrannt“, wandte ich mich der Patientin zu. „Ich schreibe Ihnen eine kleine Packung zum Testen auf.“
Die Patientin zuckte mit den Schultern: „Es ist auch lange her, dass ich mal ein Muster bekommen habe,“ sagte sie. „Nehmen Sie die Pillen alle selber?“ Ich lachte: „Nein, ich brauche zum Glück keine. Wenn es aber so weit ist, werde ich sie selber kaufen. Was ich brauchen könnte, wird nicht mehr bemustert. Oder nur mit einem Schächtelchen hin und wieder, das reicht nicht.“
Dankbar dachte ich an die wenigen Generika-Hersteller, die auch mal ein Metamizol-Präparat abgaben. Was waren das noch für Zeiten, als wir sogar noch Amoxicillin- oder Norfloxacin-Muster bekamen!
Die konnte man froh aus der Besuchstasche ziehen, wenn man nachts im Notfalldienst einem Angehörigen einen 10-km-Trip zur nächsten diensthabenden Apotheke ersparen wollte. So konnte man Freunde fürs Leben gewinnen.
Vorbei die schöne Zeit! Jetzt legen Außendienstmitarbeiter ungebeten Spezialpräparate mit unaussprechlichen Namen auf die Rezeptionstheke und verschwinden, bevor man sie ihnen wieder mitgeben kann. Wenn ich gefragt werde, lehne ich meist ab: „Sorry, dies ist ein Nischenpräparat, das ich nur dann versuchen würde, wenn ein anderes Nischenpräparat, das ich nur einmal jährlich ansetze, nicht funktioniert. Das geben Sie mal lieber jemandem, der es braucht.“ So manchen waidwunden Blick habe ich schon kassiert und ich habe echtes Mitleid mit den Pharmareferenten. Wie sehr hat sich ihr Beruf gewandelt! Aber das ist ein anderes Thema.
„Kriege ich jetzt mein Rezept?“, fragte die Patientin ungeduldig und holte mich aus meiner Tagträumerei. „Die Apotheke macht gleich zu.“ Ich entschuldigte mich und rief das Produkt im Computer auf: 30 Tabletten kosteten 12 Euro, hundert kosteten 18. Sollte ich wirklich nur die kleine Packung nehmen? Kurz fühlte ich mich wie Loriot in „Pappa ante Portas“, der kiloweise Senf ins Haus schleppte, nur weil er gerade günstig angeboten wurde. „Ich schreibe Ihnen gleich die große Schachtel auf,“ sagte ich kurz entschlossen. Zufrieden zog die Patientin von dannen und ich hoffte, dass sie gut bedient war.
Falls nicht: Wie gern hätte ich die Tabletten zurückgenommen! Wenn es makellose Blister in einer makellosen Schachtel gewesen wären, hätte ich sie bei Gelegenheit als Muster herausgeben können. Mehrfach habe ich abends im Notdienst z. B. in einem Seniorenheim neben einer Patientin mit quälendem Harnwegsinfekt gestanden und gefragt: „Wer holt denn jetzt das Medikament?“ Dann erntete ich verständnislose Blicke, weil keiner zur Apotheke fahren konnte. Wie oft werfen Patienten Antibiotika weg, die sie dann doch nicht brauchen, und wie schön wäre es, sie in solchen Fällen aus der Tasche ziehen zu können! Das aber darf ich nicht, es widerspricht wohl dem Arzneimittelgesetz und der Apothekenpflicht.
Was ist Schuld an der Misere? Die Rabattverträge sind es, denn warum sollte man Generika-Muster abgeben, wenn der Apotheker beim nächsten Rezept doch substituiert? Und es sind die Gesetze, die mir die Rücknahme und Weitergabe unbenutzter Medikamentenpackungen und -blister untersagen. Allerdings komme ich immer wieder in Versuchung, weil ich nichts wegwerfen mag (ich esse auch altes Brot). Ich fürchte, ich muss ein paar Schächtelchen entsorgen ...