Was ich aus 13 Staffeln Grey's Anatomy gelernt habe

Kolumnen Autor: Dr. Jörg Vogel

Das Thema in unserer Praxiskolumne: Manche Serien haben wirklich einen Bezug zur Realität.

An langen Winterabenden, wenn die Hollywoodschaukel draußen einsam im kalten Ostwind wackelt, gucken wir oft eine ganze Fernsehserie. Diese lief vor Monaten oder Jahren, konnte aber aus zeitlichen und ernährungstechnischen Gründen (Werbung für überzuckerte Lebensmittel) nicht geschaut werden. Diesen Winter war es die Krankenhausserie „Grey’s Anatomy“, Staffel 1–13 zu je 23 Folgen à 45 Minuten.

Dabei gab es erstaunliche Wirkungen und Nebenwirkungen. Die Hauptwirkung bestand einfach in guter Unterhaltung. Die Macher beherrschten ihr Handwerk. Geschickt wurden dramatische Bögen geführt, sodass man immer weiter gucken wollte. Wir entgingen dieser Suchtgefahr durch Selbstdisziplin: erst Sport, dann Glotze.

Die erste Nebenwirkung: Meine Frau googelte bis in die Nacht

Pro Folge gab es zwei bis drei interessante Krankheitsfälle, die sich so irgendwo in der Welt zugetragen hatten. So sah man staunend einen Patienten, bei dem ein winziges Bäumchen in den Bronchien wuchs. Er aspirierte vor Monaten ein Samenkorn, welches keine Beschwerden machte. Nun trieb es aus (!) und musste operiert werden. Die erste Nebenwirkung solcher Fälle bestand darin, dass meine Frau bis in die Nacht googelte, ob es das wirklich gab. Und tatsächlich! Die medizinische Umsetzung der Thematik war realistisch, wenn man vom intraoperativen Geplauder der Protagonisten über ihr Liebesleben absieht.

Eine andere Wirkung entstand durch das Aufzeigen sozialer Pro­bleme des amerikanischen Gesundheitswesens. Ärzte in deutschen Serien müssen sich meist keine Gedanken über Abrechnung und Kosten machen. Sie können in Ruhe die Patienten bemuttern und so dem reinen Eide frönen. Als Nebenwirkung wird einem klar, dass es uns hier sozial ziemlich gut geht. Auch wenn das manche Patienten anders sehen.

Ein weiterer Effekt war psychologischer Art. Viele Patienten reagieren in der Serie auf ihre Erkrankung zuerst unverständlich oder schroff ablehnend. Das bewirkt natürlich Frust bei den Behandelnden und schafft Raum für Konflikte. Klar, davon lebt die Serie. Gemäß der Dramaturgie offenbarte sich aber am Ende oft ein tiefes menschliches Problem des Patienten oder seiner Angehörigen, das seine Entscheidung in ein anderes Licht rückte. Manchmal mit tragischen Folgen. Meist ging es aber gut aus.

Ich war am nächsten Morgen in der Sprechstunde viel sanfter zu den Patienten

Die erstaunliche Folge: Ich war am nächsten Morgen in der Sprechstunde viel sanfter zu den Patienten. Trotz voller Praxis ließ ich sie länger reden und hinterfragte manches Problem tiefgründiger. Das tue ich sonst auch, aber dieses Mal unbewusst mit mehr Geduld. Und noch erstaunlicher: Trotzdem wurde ich rechtzeitig fertig. Ehrlich gesagt, kannte ich diesen Effekt schon von der „Schwarzwaldklinik“. Aber dass er nun prompt wieder auftrat ...

Nun könnte man darüber lächeln oder mich besonders sensibel nennen. Um nicht zu sagen, ein hausärztliches Weichei. Aber medizinische Fernsehserien der Unterhaltungsindustrie sind inzwischen längst in der ärztlichen Lehre und Fortbildung angekommen. So führte die Serie „Dr. House“ erstmals in Marburg und später an vielen deutschen medizinischen Fakultäten zur Gründung eines „Instituts für seltene Erkrankungen“. Szenen aus Folgen von „In aller Freundschaft“ wurden schon bei medizinischen Fortbildungen gezeigt.

Vielleicht könnte man deren psychologisches Potenzial nutzen, um so manchen „Redemuffel“ unter uns Ärzten dazu zu bringen, mal wieder mit den Patienten zu sprechen, anstatt ihnen nur die Einverständniserklärung über die Bettdecke zu schieben. Denn das ist es, was die Menschen in vielen Krankenhäusern und auch manchen Arztpraxen am meisten vermissen: menschliche Zuwendung.

Das hieße bei uns – ambulant wie stationär – konkret: Alle Kollegen müssten einmal im Monat Serie gucken! Das Angebot umfasst fünf Sprachen. Die operativen Fächer schauen mindestens zwei Folgen. Die Psychiatrie ist ausgenommen. So. Und ich gehe jetzt ins Bett.