Mich kann man mieten
Jeden Vormittag hält unweit der Praxis ein Bus und eine Gruppe rüstiger Senioren steigt aus. Gut ausgeschlafen fällt sie in die Praxis ein. Die „Jüngeren“ mit einem Smartphone. Die „Älteren“ mit kleinen Apotheken-Blöckchen. Die bekommen sie gratis, wenn sie immer dieselbe Apotheke aufsuchen. Kleine Geschenke erhalten die Freundschaft! Außer im Bestattungswesen. Da ist es ziemlich unwahrscheinlich, dass sich auf diese Art eine längere Kundenbindung aufbauen lässt.
Im Winter hat man genug Zeit, um nach allen möglichen Wehwehchen zu googeln
Bevorzugte Wochentage dieser Besucher sind der Montag und der Freitag. Gerade im Winter hat man an langen und dunklen Wochenenden genug Zeit, um nach allen möglichen Wehwehchen zu googeln und eine meterlange Frageliste für den Doktor anzulegen. Oder man war wieder einmal zu einem runden Geburtstag eingeladen. Dort scheint es ja ab 40 auch nur noch um Krankheiten zu gehen. Donnerstags erscheinen regelmäßig bunte Zeitschriften mit pseudomedizinischen Ratschlägen und massenhaft Anzeigen für frei käufliche Wirkstoffe. Diese werden dann ausgeschnitten und am Freitag zum Arzt gebracht. Fragen kostet nichts. Und Reden auch nicht.
Nun ist es allerdings gerade an diesen beiden Tagen auch oft sehr voll in meiner Praxis. Montags sowieso. Freitags, weil die Krankenhäuser gerne vor dem Wochenende entlassen, um nicht für drei Tage Medikamente mitgeben zu müssen. Daraus folgt ein hoher Besprechungsbedarf bei uns, denn die Klinikberichte sind zwischen vier und sieben Seiten dick. Und viel geredet wird im Krankenhaus nun gerade nicht mit den Leuten. Auch wollen sich freitags viele Patienten „lieber noch einmal vor dem Wochenende vorstellen“. Wer weiß, ob man es sonst überlebt.
Der Patient diktiert, der Hausarzt dient als Sekretär
Irgendwann sitzen sie dann bei mir drin und arbeiten in aller Ruhe ihren Zettel ab. Die häufigste Frage ist: „Herr Doktor, ich habe das und das – was könnte denn das sein?“ Danach diktieren sie mir eifrig in die Tastatur, was sie brauchen (der Hausarzt als Sekretär). Hier muss ich regelmäßig bremsen, denn der reguläre Termin war erst vor drei Wochen. Aber der Deutsche liebt eben die Vorratshaltung. Wer weiß denn schon, ob es sein Medikament von seiner bevorzugten Firma beim nächsten Mal überhaupt gibt? Wo doch laut Apotheke so vieles „gerade nicht lieferbar“ ist ...
Ich frage mich manchmal: Ist das eigentlich wirklich so oder versuchen die Apotheken einfach, teure Lagerhaltung zu vermeiden? Wenn Letzteres zutrifft, dann wird hier gelogen, dass sich die Balken biegen. Falls es aber tatsächlich so viele Engpässe gibt, dann muss man wohl an einer der „besten Volkswirtschaften der Welt“ echte Zweifel hegen.
Außerdem verlangt es meine Gäste nach einem neuen Medikamentenplan, weil der alte verschwunden ist oder die Hauskrankenpflege es so will (da hatte ich doch das letzte Mal zusätzlich Magnesium empfohlen). Abschließend wird jede noch so kleine Veränderung des Befindens ausgiebig diskutiert und immer wieder wandert der Blick aufs Apothekenblöckchen. Wenn man Pech hat, gibt es da noch eine Rückseite.
Mir bricht jedenfalls der Schweiß aus, wenn ich an die vielen anderen denke, die noch im Wartezimmer sitzen. Ich frage mich dann: Warum werden viele Menschen so, wenn sie in den Ruhestand gehen? Von Beruf Arztgänger? Haben sie keine anderen Probleme? Oder ist hier einfach nur Langeweile als „pathogener Faktor“ im Spiel?
Denn die wenigen, die vom Lande zu mir kommen, sind eher selten da. Und sie haben oft auch gar keine Zeit. Meine pseudokranken Städter hingegen saugen mir manchmal regelrecht die Energie ab. Es ist, als hätten sie mich für 30 Minuten gemietet – rent a doctor! Dann bin ich abends wie zerschlagen. Was dagegen hilft? Eine Kolumne schreiben! Bitte sehr, hier ist sie!