Die totale Sicherheit gibt es nicht
Frau Doktor, ich möchte mich mal wieder durchchecken lassen!“, sagte die Dame Mitte vierzig und schaute mich erwartungsvoll an. Leider musste ich sie enttäuschen, denn ihre letzte Grunduntersuchung war gerade ein halbes Jahr her. „Haben Sie denn Beschwerden?“, fragte ich sie, um ihr ein gezieltes Angebot machen zu können. Aber sie verneinte: „Ich ziehe nur nach Essen um und wollte vorher wissen, ob alles ok ist.“
Zwei Minuten später war es eindeutig: Hier saß wieder einmal jemand im guten Glauben daran, dass ein Check-up die Garantie dafür geben könnte, dass man in den nächsten Monaten putzmunter bliebe. Auch wollte sie gerne abgeklärt haben, ob sie „Krebs oder sowas“ haben könnte. Es gebe ja „Tumormarker“.
Ich atmete tief durch. Wäre ich doch ein skrupelloser Manager-Check-up-Anbieter! Ich hörte die Kasse schon mächtig klingeln. Hatte ich nicht vor einiger Zeit in einem Leserbrief dieser Zeitung gelesen, dass einem Patienten eine Rundumvorsorge mit allen technischen Finessen für über 4000 € angeboten worden war?
Aber das Eurosymbol verblasste vor meinem geistigen Auge wieder, weil mein Gewissen zuverlässig in die Bresche sprang: „Du wirst die arme Frau ja wohl nicht mit einer Überdosis Strahlung versehen, ihr unsinnige Laborwerte ohne Aussagekraft bestimmen und sie dazu veranlassen, eine Hypothek auf ihre Eigentumswohnung aufzunehmen, oder?“ Natürlich nicht. Ich hatte lediglich kurz an die 31 € gedacht, die ich pro Patient monatlich für meine Kassenleistungen erhalte, und an die erträumte Alten-WG am Gardasee. Pustekuchen!
„Stellen Sie sich mal vor“, beendete ich meine Träume vom Reichtum, „man könnte an einem Blutwert erkennen, ob man Krebs hat. Dann müsste man all die lästigen Spiegelungen, gynäkologischen Untersuchungen oder belastenden CT-Scans gar nicht mehr machen. Wir wären ja blöd, wenn wir das den Patienten nicht gönnen würden. Stellen Sie sich mal die Kostenersparnis vor! Die Krankenkassen würden uns geradezu verdonnern, diese Werte regelmäßig auf ihre Kosten zu erheben. Aber leider klappt das nicht.“ Die Enttäuschung meiner Patientin spiegelte sich auf ihrem Gesicht. „Soll ich dann vielleicht in die Röhre?“, fragte sie. „Da kann man ja alles sehen!“
„Welche Röhre?“, fragte ich zuckersüß zurück. „Für den Kopf oder für den Bauch? Was ist, wenn wir beides tun, auch die Brust röntgen, und wir sehen dadurch nicht, dass sich ein extrem seltener Knochentumor an Ihrem Fuß befindet? Das wäre eine riesige Strahlenbelastung – und Sie hätten dennoch keine Sicherheit.“ Sie aber, gut informiert, trumpfte mit dem Ganzkörper- PET auf: „Da sieht man doch alles!“ „Klar“, entgegnete ich, „da hat man dann für ca. 1200 € Sicherheit. Aber wie lange? Einen Monat, zwei? Wer verspricht Ihnen, dass sich nicht kurz nach der Untersuchung ein Tumor entwickelt? Wie oft wollen Sie das denn wiederholen?“ Um ihre Hypochondrie nicht zu schüren, verzichtete ich darauf, von Aderhaut-Melanomen oder Multipler Sklerose zu sprechen, die sich jederzeit einstellen könnten.
Kurz gab es nur Schweigen im Sprechzimmer, aber ich wollte auch nicht zu viel Frustration verbreiten: „Wir schauen Blutbild und Schilddrüsenwerte nach“, bot ich an. „Neulich waren die nicht ganz perfekt, wir werden sehen, ob sie nun in Ordnung sind.“ Dann aber konnte ich mir nicht verkneifen, um ein bisschen Optimismus zu bitten. Gerade als Ärztin weiß ich am allerbesten, was alles schieflaufen kann, und dass jeder gesunde Tag ein großes Wunder ist. Vorsorge im sinnvollen Rahmen kann ja allerlei Überflüssiges verhüten, aber die totale Sicherheit gibt es nun einmal nicht.
Neulich begegnete mir ein kleiner Junge, höchstens neun Jahre alt, der mit seinem Roller die Straße herabsauste und aus vollem Hals „Freude schöner Götterfunken“ sang (zwar ohne Text, aber absolut tonrein). Diese Begegnung hatte mich den ganzen Tag fröhlich gestimmt. Da kennt so ein Kind dieses klassische Werk und schmettert es in die Welt vor lauter Lebensfreude! Auch meine Patientin lächelte, als ich ihr davon erzählte. „Ich wünsche Ihnen ein bisschen von seinem Optimismus“, sagte ich zu ihr, „und falls Sie doch mal krank werden, gibt es auch in Essen gute Ärzte“.