Diagnose Formularitis
Kürzlich erhielt ich unser aktuelles KV-Blättchen. Darin der Hinweis, dass mit Wirkung des ersten Oktober 2020 wieder neue Formulare in Umlauf kommen. Dieses Mal betrifft es die häusliche Krankenpflege und die Verordnungsscheine für Physiotherapie. Und da es eine „Stichtagsregelung“ ist, dürften noch vorhandene alte Formulare leider nicht aufgebraucht werden.
Nun weiß ich nicht, wie oft wir das in den letzten Jahren schon erlebt haben. Angefangen vom Check-up über Physiotherapiescheine bis hin zum Transportschein. Man vergeudete viel Papier und nichts wurde dadurch besser. Im Gegenteil, hier noch ein zusätzliches Feld und da noch eine weitere Verschlüsselung. Jedes neue Formular bedeutete noch mehr Bürokratie. Wie sagt man im Volksmund: „Steter Tropfen höhlt den Stein.“ Vielleicht fühle ich mich deshalb so müde und leer, wenn ich von derartigen Neuerungen lese.
Im wahrsten Sinne des Wortes den Vogel abgeschossen (Ha, ein Wortspiel!) haben unsere Oberbürokraten mit der bereits erfolgten Einführung des neuen Krankentransportscheins. War der früher im Querformat und zunächst noch relativ einfach gehalten, ähnelt er jetzt im Hochformat täuschend echt den Verordnungsscheinen für Physiotherapie. So reichte schon mancher Patient dem freundlichen Krankentransporteur oder Taxifahrer einen lila Zettel übers Cockpit mit einer Heilmittelverordnung, auf der „Hin- und Rückfahrt“ angekreuzt war. Wobei man ja bei der manuellen Lymphdrainage im Grunde genommen auch nichts anderes macht. Nur eben mit den Händen auf dem gestauten Patientenkörper.
Das Ganze hört sich vielleicht lustig an. Das ist es aber für die gehbehinderten Patienten nicht. Weil sie jetzt noch mal extra in die Praxis müssen, um den fehlerhaften Schein auszutauschen (und dafür eigentlich auch schon wieder einen Transportschein benötigen).
Nun gibt es sicher pfiffige und PC-affine junge Kollegen, die sagen: „Was regst du dich denn auf? Kauf’ dir doch einen Laserdrucker und nimm die Einheitsscheine in schweinchenrosa! Dann hast du keine Sorgen!“
Ja, ihr Lieben. Aber meine beiden alten Geräte tun’s eben noch. Und eine farbige Praxis macht einfach mehr Spaß als eine, in der farblich alles aussieht wie der Hintern von Boris Becker. Deshalb mag ich die (noch) bunte Vielfalt, und mir graust vor dem Gedanken, dass eines Tages einfach alles digital werden wird.
Denn digital hieß bisher immer: noch mehr Bürokratie. Deshalb verfolge ich auch mit großer Sympathie die Bewegung der ärztlichen Kollegen, die es einfach satt haben, sich noch mehr digital „einspahnen“ zu lassen. Denn wir sind in erster Linie Ärzte und keine Verwalter einer ausufernden Gesundheitsbürokratie!
Den Gipfel der „Formularitis“ aber haben die Versorgungsämter erklommen. Gab es früher lediglich den Vordruck für einen Arztbericht, so geht die Zahl der Dokumente inzwischen gegen unendlich. Je nachdem, wie viele Diagnosen oder Beschwerden dem Antragsteller eingefallen sind, bekommt man für jedes Problem einen Extrazettel zum Ausfüllen beigefügt. Und da der Patient etwas will vom Amt, hat er mit seinen Wehwehchen auch nicht hinterm Berg gehalten. So entstehen regelrecht adipöse Gutachtenanforderungen, die fast den Umschlag sprengen. Nur leider hat man beim Versorgungsamt „vergessen“, auch das Honorar entsprechend anzupassen. Das heißt, mit 21 Euro ist alles erledigt. Egal was. Man macht mich zu einer Art Discounter-Hausarzt!
Immer wieder erzählt man davon, dass es früher, zu handschriftlichen Zeiten, Patienten gegeben haben soll, die das Rezept des Doktors als Eintrittskarte fürs Theater verwendeten – ganz einfach, weil es keiner lesen konnte. Nun, das wollen wir heute niemandem mehr zumuten. Aber wenn’s im ärztlichen Bereitschaftsdienst nicht anders geht – dann bin ich für die Einführung eines Entschuldigung-Formulars. Das ist ja wohl das Mindeste!