Wenn die Kassen zum Betrug auffordern
„Die Frau bei der Krankenkasse sagt, das sei kein Problem.“ Irritiert lehnte sich mein Patient nach vorne, während sich mir die Nackenhaare sträubten. Das ist so ein Satz, den ich gar nicht leiden kann, weiß ich doch aus leidvoller Erfahrung, dass er nur Ärger bedeutet – z.B. wenn es um nicht indizierte Rezepte für Massagen geht. In diesem Fall ging es um Akupunktur.
Nun, ich war urlaubserholt und tiefenentspannt. Also fragte ich gelassen: „Und wie stellt die Dame von der Kasse sich das vor?“ Mein Gegenüber wollte seine Migräne gerne mittels chinesischer Heilkunst behandelt haben, was die gesetzlichen Krankenkassen nicht übernehmen. Akupunktur gibt es nur für Rückengeplagte und Gonarthrotiker. „Sie hat gesagt, ich soll einfach auf die Abrechnung schreiben lassen, dass die Akupunktur gegen Rückenschmerzen war“, war die Antwort, die ich befürchtet hatte. Ich hörte sie nicht zum ersten Mal.
Da forderte eine Sachbearbeiterin einer Krankenkasse ihren Kunden ganz offen zum Betrug auf. Nicht nur, dass ich den Patienten mit einer falschen Diagnose belegen sollte. Ich war ja auch verpflichtet, Symptome und verwendete Akupunkturpunkte zu notieren. All das hätte ich rotzfrech fälschen müssen. Es dauerte eine Weile, bis der junge Mann akzeptierte, dass ich dazu nicht willens war. „Jetzt kann ich das nachvollziehen“, meinte er zuletzt. „Schade. Dann hätte ich mir den Weg ja sparen können. Eine Privatbehandlung ist mir zu teuer.“ Ich gab ihm den Tipp auf den Weg, mal ein klärendes Gespräch mit seiner Sachbearbeiterin zu führen.
Ähnliches widerfährt mir hin und wieder mit Rehasport. „Die meisten in unserem Kurs sind schon länger dabei“, trumpfte eine ältere Dame auf. „Sie müssen nur ‚Rückenschmerzen‘ statt ‚Lumbalgie‘ schreiben, dann ist das eine neue Diagnose. Dann kann ich wieder ein Jahr mitmachen. Das machen alle so!“ Ich weiß. Das ist auch der Grund, warum arme Patienten auf den Wartelisten verhungern, während andere schon im dritten Jahr kostenlos mitturnen. Ich weigerte mich. „Aber das hat man mir bei der Krankenkasse so geraten“, funkelte sie nun böse. Was macht die arme Landärztin?
„Darf ich nochmal Krankengymnastik haben?“ Zunächst kommt so eine Frage harmlos daher. Diesmal aber tauchte neben Budgetberechnungsproblemen noch eine andere Frage auf: Hatte ich nicht gerade die „Erlernung eines Eigenübungsprogrammes“ beim Krankengymnasten erbeten? „Das stimmt“, gab die fragende Dame errötend zu, „aber mein Therapeut hat gesagt, ich wäre ja so verspannt, da müsse man erst mal Massagen machen, um alles zu lockern. Jetzt brauche ich noch ein paar, bis ich Krankengymnastik machen kann.“ Ach, was! Jetzt sind meine Rezepte also nur noch Vorschläge, die man nach Belieben interpretieren kann? Da die Patientin nicht wusste, dass das kein akzeptables Vorgehen war, rezeptierte ich zähneknirschend ein weiteres Mal Krankengymnastik. Über meinen anschließenden Anruf beim Therapeuten schweige ich lieber.
Was ist los in unserem Staate? Dass jeder sich selbst der Nächste ist, wissen wir. Dass die Krankenkassen alles tun, um ihre Kunden zu behalten, auch. Dass sie Sonnenbrillen oder Bonuspunkte verschenken, während die ärztliche Arbeit nicht nur mager honoriert, sondern auch durch Codierungswahnsinn reglementiert und erschwert wird, auch. Aber dass nicht nur betrogen, sondern zum Betrug geradezu aufgefordert wird, ist schon ein starkes Stück!
Vielleicht sollte ich nicht so moralinsauer sein und stattdessen einfach mitschwimmen im Strom. Vielleicht unsere Attestgebühren in der Kitteltasche versenken und als Schwarzgeld in Singapur lagern? Chronisches „Aftersausen“ als Lumbalgie akupunktieren? Zehn Synonyme für Lumbalgie finden, damit meine Patienten auch die nächsten Jahre auf Kosten der Krankenkasse turnen können? Ich werde darüber nachdenken. Aber nicht ernsthaft.