(K)ein Ende in Sicht
Als ich jüngst ein Wochenende auf Usedom verbrachte, traf ich in einem Café zwei Frauen. Sie entpuppten sich als hausärztliche Kolleginnen aus Sachsen-Anhalt. Beide 61 Jahre alt, aber aussehend wie Ende vierzig. Sie hatten kürzlich ihre Gemeinschaftspraxis verkauft. „Ein unwiderstehliches Angebot von zwei Internisten“, wie sie lächelnd erzählten. Nun war die eine hierher gezogen, die andere bei ihr zu Besuch.
Ich fragte sie, ob ihnen der Beruf fehle. „Nein. Im Gegenteil. Endlich kein Zeitdruck mehr, keine Bürokratie, keine Dienste.“ Das ließ mir keine Ruhe. Ich bin sehr gerne Arzt. Wie können zwei solch fitte Kolleginnen diesen schönen Beruf so einfach ablegen wie ein zu eng gewordenes Kleidungsstück? Die Antwort darauf fiel jedoch nicht schwer. Man brauchte dieser Tage nur mal in die Zeitung zu blicken: „Bundestag beschließt weitere Digitalisierung des Gesundheitswesens“.
Nun sollen wir Ärzte also tatsächlich unseren Patienten den beschwerlichen Weg zu ihrer Krankenkasse ersparen und ihre Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung digital übermitteln? Per Gesetz einfach so beschlossen? Ich sehe schon einige meiner „Montagskranken“ kichern. Erst fällt der Doktor auf ihr „Ich habe Durchfall vom Feinsten“ herein und dann meldet er sie auch noch selbst krank. Das Schlaraffenland auf Erden!
Und „Gesundheitsapps“ künftig per Rezept verordnen? Ja, geht’s noch? Werden die Leute nun in eine App-otheke umgeleitet, weil es in der Apotheke fast nichts mehr gibt? Was kommt dann? Unsere sowieso schon total verängstigte (im Politikersprech: „gesundheitsbewusste“) Bevölkerung wird sich noch gründlicher selbst vermessen und den Arzt bei jeder noch so geringen Abweichung aufsuchen. Ich sehe sie schon vor mir sitzen, wie sie mir im Sprechzimmer ihr Smartphone entgegenstrecken mit all den bunt markierten Werten. Und dann dreht sich der Bildschirm.
Wie kommen unsere „Volksvertreter“ dazu, derart am Volk vorbei zu regieren? Wer will oder braucht denn so etwas? Die immer älter werdende Bevölkerung? Wir Ärzte? Laut einer Umfrage lehnen ca. 70 Prozent der niedergelassenen Kollegen diese digitalen Neuerungen ab. Nur 11 Prozent können es sich vorstellen, eine App auf Rezept zu verordnen.
Stattdessen kämpfen die Apotheker und wir tagtäglich mit Lieferengpässen bei Medikamenten und beruhigen die zu Recht aufgebrachten und verängstigten Patienten. Selbst so etwas Altehrwürdiges wie Ranitidin ist derzeit nicht lieferbar. Famotidin ebenfalls nicht. Also heißt es: Ausweichen auf Cimetidin – eine Therapie wie vor 40 Jahren. Merkt denn unser Gesundheitsminister nicht, dass wir mit der ambulanten Versorgung der Patienten auf dem letzten Loch pfeifen?
Da wundert es nicht, dass sich immer mehr Kollegen diesem System verweigern und lieber mit Abschlägen in den Ruhestand gehen. Ich kenne einige, die haben tatsächlich so ein Bandmaß wie Armeeangehörige. Jeder Zentimeter steht für eine verbleibende Arbeitswoche und wird samstags feierlich abgeschnitten. Das Ende in Sichtweite.
Für mich kann ich mir so etwas bisher nicht vorstellen. Gut, auch ich wünsche mir oft eine etwas weniger volle Praxis. Aber die Massen strömen nun mal zum Arzt, mit Zettelchen voller Ängste und Sorgen. Weil sie doch im Internet gelesen haben, bei wie vielen es mit scheinbar harmlosen Rückenschmerzen begann und dann ach so letal endete.
An manchen Tagen kann man es dank eines witzigen Einfalls besser ertragen. Als neulich die Praxis schon früh um acht förmlich überlief, fragte mich eine junge Frau, wo denn die ganzen Menschen herkämen, jetzt, ohne Grippewelle. Ich erklärte ihr im Vertrauen, dass ich einen Vertrag mit dem Reiseclub Lausitz hätte und dadurch täglich um acht und um zehn ein Bus käme. Was soll ich sagen: Dieses erstaunte Gesicht ließ mich den ganzen Tag lächeln. So werde ich mit dem Bandmaß dann doch noch etwas warten.