Ich bin ein Fossil aus dem letzten Jahrhundert
Wie habe ich als Teenager den Spruch „man ist so alt, wie man sich fühlt“ immer gehasst! Da erzählten die ergrauten Damen und Herren, dass sie sich wie Mitte 30 fühlten. Sie strahlten dabei, während ich mich schulterzuckend fragte, ob so der Beginn einer Altersdemenz aussieht. Später als Twen hörte ich meine 90-jährige Großmutter sagen: „Innen bin ich immer noch zwanzig! Die Sonne scheint immer noch genau so warm wie früher in mein Gesicht. Vom Gefühl her könnte ich einfach losrennen!“ Ich glaubte ihr, denn sie war im Geiste jung geblieben, auch wenn von Rennen keine Rede mehr sein konnte. Dennoch schien mir die Vorstellung absurd, dass die Gefühle in einem so alten Körper den meinen irgendwie gleichen sollten.
Nun habe ich die Sechzig überschritten und halte das für einen Rechenfehler. Wie kann jemand, der so viele Ideen, der so viel Spaß am Leben hat, so alt sein? Manchmal ertappe ich mich bei der Vorstellung, beruflich noch mal ganz neue Wege zu gehen. Dann rufe ich mich zur Ordnung: „Sorry, Lady, du bist wirklich zu alt dafür!“ Als ich das große Glück erfuhr, eine Enkelin zu bekommen, erwischte ich mich bei dem Gedanken, wie nett es doch wäre, noch ein eigenes Kind zu kriegen. Das geht naturgemäß nicht mehr, aber so richtig glauben kann ich weder das noch mein Alter. Die anderen aber.
„Kann mein schlechtes Befinden an zu wenig Schlaf liegen?“, fragte mich neulich ein junger Mann, der nachts viel mit seinem Handy beschäftigt war. „Ich twittere viel“, sagte er, um sich zu unterbrechen und mich fragend anzusehen: „Kennen Sie Twitter?“ In dem Moment alterte ich um 20 Jahre. „Ich habe schon vor zehn Jahren einen Vortrag darüber gehalten, ob Twitter für Ärzte hilfreich ist!“, antwortete ich etwas pikiert. „Wem folgen Sie denn da?“ „Hauptsächlich Stars“, antwortete er, „aber gerne auch YouTubern“. Wieder stoppte er und fragte zweifelnd: „Kennen Sie YouTube?“ Jetzt war ich endgültig zum Fossil geworden. Was bildete der Bengel sich ein? „Es gibt über 20 Videos von mir bei YouTube“, sagte ich hochnäsig. „Natürlich kenne ich die Seite!“
Wahrscheinlich führte meine blasierte Miene zu einem stärkeren Faltenwurf um meinen Mund. Er murmelte jedenfalls nur ein „Sorry“ und fragte sich wahrscheinlich, ob das der Beginn einer Altersdemenz war.
So altere ich also vor mich hin. Doch ich genieße die Erfahrung, die mir die Lebensjahre gebracht haben. Die Gelassenheit in kniffligen Situationen und die Abgeklärtheit, mit der ich mich von Ballast befreie: Falsche Freunde, langweilige Partys, Patienten, die mich gnadenlos aussaugen. Tatsächlich erlaube ich mir, wenn die Chemie so gar nicht stimmt, zu sagen: „Offensichtlich kommen wir nicht miteinander klar. Ich schlage Ihnen vor, Sie suchen sich eine andere Ärztin oder einen anderen Arzt. Das erspart uns beiden Stress.“
Gleichzeitig halte ich mich natürlich für taufrisch, zumindest im Kopf. Und Spiegel gibt es zum Glück nicht viele in der Praxis. Vorsicht ist aber geboten, wenn das „Jugendgefühl“ überhand nimmt: Bloß nicht anbiedern! Niemals würde ich mich in Jugendsprache üben. Wie groß wäre wohl das Entsetzen, wenn ich einem Teenager bestätigen würde, dass sein Husten „voll krass“ sei. Ich habe auch keine Patienten als Facebookfreunde (obwohl hin und wieder eine Anfrage kommt).
Dafür gehe ich durchaus mal mit Badekappe ins Schwimmbad, um meine frisch geföhnten Haare zu schonen. Damit hätte ich früher nicht „tot überm Zaun“ hängen wollen! Nun aber denke ich altersweise: „Die Badegäste halten dich eh für alt. Dann darfst du auch eine Badekappe anziehen“. In diesem Sinne: Altern Sie stolz!