Me too? Ich doch nicht!

Kolumnen Autor: Dr. Frauke Gehring

 Jeder geht mit Übergriffen anders um. Jeder geht mit Übergriffen anders um. © Tinnakorn – stock.adobe.com; MT

Flirten, Komplimente, zweideutige Witze – ein bisschen Erotik in einem doch öfter grauen oder stressigen Alltag?

Als die „Me-too-Debatte“ begann und für ordentlichen Wirbel sorgte, habe ich mich gefreut: Endlich wurden jene Missetäter an die Öffentlichkeit gebracht, die ihnen Anvertraute mit schmierigen Fingern, sexistischen Bemerkungen und Witzen belästigten. Geahnt hatten wir ja schon immer, dass „Sex-gegen-Job“ nicht nur in Hollywood eine mögliche Art der Karrierebeschleunigung war.

Und gewusst hatten wir, dass einige abhängig Beschäftigte von anzüglichen Bemerkungen und überflüssigen Umarmungen beim Blick in Arbeitsunterlagen bis hin zu „einvernehmlichem“ Sex allerlei zu ertragen hatten. Darum war es eine Genugtuung, dass nun der helle Strahl der Aufklärung solche Übergriffe an den Pranger stellte und hoffentlich zukünftig unterbindet­.

Irgendwann fragte ich mich aber skeptisch: „Bin ich eigentlich so unattraktiv? Ich bin noch nie sexuell belästigt worden!“ Die Erkenntnisse meines folgenden Brainstormings waren jedoch erschütternd: Ich hatte durchaus Übergriffe erlebt, die ich aber im Rahmen der „Post-68er-Freiheit“ schulterzuckend abgehakt hatte.

Da war der mir nur entfernt bekannte Mann, der mich nach einer Studentenfeier küssend weckte und sagte: „Du sahst einfach so niedlich aus, als du schliefst!“ Oder jener, der mich auf der Straße mit derben Komplimenten für eine Pornoproduktion werben wollte. Der Oberarzt, der mich mit zu einer Herztransplantation nach London nehmen wollte: (sein) bed and (maybe) breakfast inklusive.

Dann gab es auch einen Chefarzt, der mir während eines Bewerbungsgespräches vorschlug, mich statt der Chirurgie dem Hausfrauenleben zu widmen. Der Oberarzt, der während der OP gerne frauenfeindliche Witze erzählte, oder der Pfleger, der beim Zubinden der OP-Kleidung seine Finger auch dort hatte, wo sie nicht unbedingt hingehörten. Die Liste ginge eigentlich noch weiter, aber was ich in meiner Praxis erlebte, fällt unter die Schweigepflicht.

Das Merkwürdige: Ich fand das gar nicht schlimm! Manche Witze waren wirklich lustig und die Berührung des Pflegers, den ich gut leiden konnte, nicht unangenehm. Der Kuss war sanft und den Porno sowie den Flug nach London habe ich kurzangebunden abgelehnt. So what? Im Gegenzug gab es genug Situationen, in denen die Tatsache, dass mein Gegenüber ein Mann und ich eine Frau war, für ein spannendes Kribbeln und ein bisschen (harmlose) Erotik in einem doch öfter grauen oder stressigen Alltag gesorgt hat.

Ganz so lässig sehe ich das heute nicht mehr, da es doch Menschen gibt, die leider von ihren Belästigern abhängig sind und/oder über weniger Selbstbewusstsein verfügen als ich. Auch für jene, die Klapse auf den Po, sexuelle Bedrängung oder gar Vergewaltigungen erfahren mussten, bin ich heilfroh, dass das nicht mehr ungestraft bleibt.

Aber dennoch finde ich, dass wir übertreiben. Manche Kleinigkeiten werden aufgebauscht, um unschuldige Männer zu Opfern zu machen. Die kleinen, harmlosen erotischen Highlights des Alltags werden weniger – man könnte ja was missverstehen. Darf man noch flirten? Komplimente machen? Witze erzählen, die nicht politisch korrekt sind, aber lustig? Müssen wir nun die Männerballets im Karneval abschaffen, weil sie Frauen „herabwürdigen“?

Wenn ich früher jemanden abhorchte, legte ich dabei sanft eine warme Hand an den Rücken, bei Männern wie bei Frauen, bei Kindern sowieso. Ich wollte der kalten Technik eine menschliche Note, eine echte Berührung, an die Seite stellen. Das traue ich mich jetzt kaum noch, obgleich mich meine professionelle Einstellung in meiner Praxis zuverlässig vor erotischen Empfindungen schützt. Schade, wenn als Kollateralschaden der „Me-too-Debatte“ auch noch die Menschlichkeit verloren geht!