Die Entdeckung des Nur-mal-schnell-Syndroms
Der innere Aufbau einer Arztpraxis ist eine Wissenschaft für sich. Viele Patienten ahnen ja nicht, wie viel strategische Überlegung dafür notwendig war. Insbesondere sollte der Doktor vorn an der Anmeldung nicht sofort zu sehen sein. Sonst wird er Opfer des „Nur-mal-schnell-Syndroms“ – eine beliebte „Erkrankung“, um trotz voller Praxis nicht zu lange warten zu müssen.
Das Syndrom äußert sich folgendermaßen: Ich komme vor zur Theke, um den nächsten Patienten hereinzubitten. Prompt stürzt Frau Müller auf mich zu und hält mir einen zweiseitigen, eng beschriebenen Befund vor die Nase. „Herr Doktor, hier ist der Brief vom ,Neprologen’. Können Sie mir NUR MAL SCHNELL sagen, was da drin steht?“ Wenn ich dann antworte, dass ich das nicht NUR MAL SCHNELL kann, weil ich ihn auch erst lesen und danach für sie übersetzen muss, schmollt sie. Also bitte ich sie ins Wartezimmer. Genau wie den älteren Herrn, der NUR MAL SCHNELL fragen wollte, ob das Prostatamittel aus der Zeitungsannonce besser wirkt als sein Alphablocker.
Gut, den stets manischen Meier kann ich schlecht ins Wartezimmer schicken. Er kommt soeben aus der Klinik – frisch gallenoperiert. Nun wedelt er mir und allen Leuten, die er trifft mit einer durchsichtigen Tüte vor den Augen herum. Darin mehrere undefinierbare Klumpen: „Schauen Sie mal, Herr Doktor! Ich wollte Ihnen NUR MAL SCHNELL meine Gallensteine zeigen. Solche Dinger! Lass ich mir prima Manschettenknöpfe draus machen.“
Mich interessieren eigentlich mehr seine Wunden und die verordneten Medikamente. Aber natürlich nicht heute, weil er am Entlassungstag noch als Klinikpatient gilt. Wenn er Glück hat, haben die Kollegen im Krankenhaus an ein paar Schmerztabletten für die Nacht gedacht. Und an die Aufenthaltsbescheinigung, die als stationäre Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung gilt. Oft genug schon musste ich Patienten erklären, dass der „gelbe Schein“ nur für ambulant gedacht ist. Und sie wieder zurückschicken, um sich den stationären Wisch zu holen.
Aber damit soll es ja per Gesetz bald vorbei sein. Dann ist es allein unser ärztliches Problem, wie die Krankenkassen zu diesem Dokument kommen. Natürlich digital und NUR MAL SCHNELL. Wie das gehen soll, wenn doch schon die TI nicht richtig funktioniert, weiß vielleicht unser ministerialer Göttervater. Ich jedoch nicht. Aber wenigstens haben wir Hausärzte dann keine Langeweile mehr!
Direkt vor der Empfangstheke befindet sich bei uns übrigens der „Vorwartebereich“: drei nebeneinander stehende Stühle. Dorthin ruft die pfiffige Arzthelferin die folgenden Patienten. Das hat den Vorteil, dass der Doktor nicht „Der Nächste bitte!“ brüllen muss. Außerdem spart es Zeit. Denn der Patient hat seine Lektüre beendet, die Sinne sind gespannt und der Rollator in Reichweite. Klar, das macht nur ein bis zwei Minuten Zeitgewinn aus. Aber bei 60 Patienten am Tag ist das eben auch eine gewonnene Stunde.
Interessanterweise kommt es im „Vorwartebereich“ regelmäßig zu einer Art Patienten-Ballett. Wenn nämlich der ganz rechts Sitzende hereingerufen wird, erheben sich synchron die beiden Nächstsitzenden und rücken einen Stuhl weiter. Es erinnert irgendwie an das alte Kinder-Spiel „die Reise nach Jerusalem“. Nur dass der ökonomisch denkende Erwachsene bei uns nicht wirklich aufsteht. Er hebt lediglich seinen Hintern um circa zwanzig Zentimeter an. Dann schiebt er ihn nach rechts, um sich dort seufzend wieder auf denselben fallen zu lassen. Schließlich ist er krank.
Haben die Patienten das ärztliche Sprechzimmer dann endlich erobert, werden aus vielen Nur-mal-schnell-Dränglern prompt Alle-Zeit-der-Welt-Patienten. Der beliebteste Satz lautet dann „ ... wenn ich schon mal hier bin ...“. Und dann werden – NUR MAL SCHNELL natürlich – zwanzig verschiedene Beschwerdebilder abgearbeitet.