Groß rausgenommen statt groß rausgekommen

Kolumnen Autor: Dr. Jörg Vogel

Die neue Zauberformel: „Ich bin fix und fertig. Sie müssen mich für zwei bis drei Wochen rausnehmen!“ Die neue Zauberformel: „Ich bin fix und fertig. Sie müssen mich für zwei bis drei Wochen rausnehmen!“ © iStock/Goodboy Picture Company

Immer wieder kommen Patienten, die sich krankschreiben lassen wollen – teilweise grundlos. Neuerdings gibt es dafür einen neuen Begriff: herausnehmen.

Es war die Woche vor Weihnachten. Die Straßen waren morgens leer und ich schnell in der Praxis. Scheinbar fuhr niemand mehr zur Arbeit. Dafür habe ich womöglich selbst gesorgt an diesem Fest der Brückentage. Noch nie kamen so viele Menschen zu mir, die offensichtlich nur eins wollten: zu Hause bleiben. Einige waren auch wirklich krank. Viele andere aber täuschten eine Krankheit vor.

Man ist dann als Hausarzt in der Zwickmühle: Tut man so, als merkt man es nicht, halten sie einen für verblödet und empfehlen mich ihren tausend Facebook-Freunden als „Gernekrankschreiber“. Dann kommen womöglich Hunderte von dieser Sorte. Spricht man ärztliche Kollegen, die das Problem haben, darauf an, sagen die meistens: „Ich bin Mediziner und keine Strafverfolgungsbehörde. Sollen das doch die Betriebe regeln und diese Leute entlassen!“

Konfrontiert man den Patienten aber mit seinem reinen AU-Begehren, re­agiert dieser in aller Regel gekränkt. Dann folgt eine lange Diskussion darüber, dass er doch sonst nie zum Arzt geht. Alle anderen machen es ebenso, und überhaupt wäre sowieso nichts mehr zu tun in der Firma. Da das viel Zeit kostet, schreibt man ihn schließlich doch arbeitsunfähig. Weil man entnervt ist und das Wartezimmer überläuft.

Natürlich sollte man immer im Hinterkopf behalten, wie sehr man sich in der Medizin irren kann. So mancher, den ich im schlimmsten Montagsstress schon beinahe rausgeschmissen hätte, entpuppte sich dann eben doch als wirklich kranker Mensch. Dann muss man sein ärztliches Wirken selbstkritisch reflektieren und sich zur Professionalität ermahnen.

Manchmal ist es aber auch wirklich schwer auszuhalten. Vor allem, wenn man selbst halb krank in der Praxis sitzt. Genau dann kommen die oftmals jüngeren Patienten mit ihrer neuen Zauberformel daher: „Herr Doktor, ich bin fix und fertig. Sie müssen mich mal für zwei bis drei Wochen herausnehmen!“

Herausnehmen – dieses Wort hat so etwas Technisches. Handwerker nutzen es. Oder Chirurgen. Den Blinddarm herausnehmen, das kennt man. Auch bei Gartenbesitzerinnen, die einst zu dicht gepflanzt hatten, habe ich das schon gehört: „Heinz, wir müssen die Tanne dort rausnehmen!“ Klingt äußerst professionell, heißt aber übersetzt: „Mach endlich das blöde Ding da weg! Und zwar mit Wurzel! Ich brauche das Licht für meine neue Blumenrabatte!“

Ich frage diese unter 30-Jährigen meist, was sie denn so überfordert, dass sie in ihrem Alter – quasi auf dem Höhepunkt ihrer jugendlichen Kräfte – dermaßen am Ende sind. Und ob sie nicht einfach Urlaub nehmen können. Nein, können sie nicht. Und alles in ihrem Umfeld ist schuld: Die unmenschlichen Anforderungen im Job oder der Schule, die blöden Kollegen, der grimmige Chef. Und auch mit dem Partner läuft es nicht richtig ...

Kann es sein, dass das früher anders war? Ich kann mich nicht erinnern, dass ich oder einer meiner Mitschüler oder Studienkollegen in diesem Alter wegen so etwas zum Arzt ging. Wir hatten auch Prüfungsstress oder mal Ärger im Nebenjob oder Liebeskummer. Aber ließen wir uns deshalb „herausnehmen“? Und gleich für zwei bis drei Wochen? Laut einer neuen Studie der DAK sind allein im dünn besiedelten Bundesland Brandenburg 8800 junge Menschen überfordert und depressiv und gehören in ärztliche Behandlung. Lange Krankenhausaufenthalte seien keine Seltenheit. Eltern und Freunde sollen auf Frühzeichen einer Depression achten.

Über die Ursachen schweigt man sich aus. Dabei sind sie längst bekannt und bestens beschrieben. Zum Beispiel durch den Neurologen Prof. Spitzer in seinem Werk „Die Smartphone-Epidemie“. Nur: Eine Lösung habe ich auch nicht. Das macht mich fix und fertig. Vielleicht lasse mich auch mal eine Weile herausnehmen. Am besten gleich bis Ostern.