Reden ist Silber, Schweigen nicht möglich

Kolumnen Autor: Dr. Jörg Vogel

Unser Kolumnist ist es leid, durch eine FFP2-Maske zu argumentieren. Unser Kolumnist ist es leid, durch eine FFP2-Maske zu argumentieren. © iStock/Dzonsli; MT

Nachdem die Wartezimmer vor einigen Monaten noch ungewöhnlich leer waren, trauen sich die Patienten so langsam wieder in die Praxen. Einer der Hauptgründe für den Arztbesuch: akuter Redebedarf. Das ist zumindest der Eindruck unseres Kolumnisten.

In unserer Praxis wird viel sprechende Medizin betrieben. Nicht erst seitdem der Punktwert dafür angehoben wurde, sondern schon immer. Einfach, weil die Leute gerne über sich und ihre Erkrankungen reden. Das scheint für viele ein wichtiger Grund zu sein, regelmäßig beim Arzt zu erscheinen. Denn zu Hause geht das nicht lange gut. Irgendwann fasst sich ein Angehöriger ein Herz und sagt: „Ich kann dein Gejammer nicht mehr hören! Wann hast du endlich wieder einen Termin beim Doktor?“

Früher hat der Partner gesagt: „Erzähl’ das deinem Friseur!“ Heute sagt er: „Geh’ zum Arzt! Das ist billiger!“ Jetzt, in Zeiten der nicht enden wollenden Coronapandemie, steigt dieses Redebedürfnis in der Praxis noch einmal an. Denn andere wichtige Zielobjekte und potenzielle Zuhörer des Jammerers brechen weg. Wer steht schon gern zwischen Supermarktregalen und nuschelt irgendeinem anderen durch eine selbstgenähte Stoffmaske seine Symptome zu? Das macht keinen Spaß. Zumal auch die bemitleidende Mimik des Gegenübers fehlt. Auch beliebte Kaffeenachmittage im Seniorenklub oder lustige Kegelabende wurden gestrichen. Und die Kirche als Ort der Begegnung spielt schon lange keine tragende Rolle mehr.

Ich jedenfalls bin froh, dass die Patienten wieder kommen. Denn eine gar so leere Praxis ist auch nicht schön. Und ein Trend zum Verschleppen von Krankheiten aus Angst vor Ansteckung war schon zu bemerken.

Dabei scheinen die wenigsten meiner Patienten Angst davor zu haben, an COVID-19 zu erkranken. Sie machen sich vor allem große Sorgen um die Zukunft und befürchten weitere oder gar dauerhafte Einschränkungen ihrer sozialen Kontakte und Rechte. Dazu finden sie keine Antworten in den Publikumsmedien, die sich oft nur darauf beschränken, die aktuellen Infektionszahlen zu vermelden. Und dann werde oft ich gefragt: „Herr Doktor, was halten Sie denn nun von ‚Corona’?“ Ich sei doch vom Fach und müsse es wissen.

Ich weiß es aber nicht. Viele Merkmale einer Pandemie, wie wir sie einst im Studium lernten, fehlen. Es gibt kein Massenaufkommen Erkrankter, sondern höchstens SARS-CoV-2-Positiver. In unserer Stadt wurden seit Anfang Mai 2020 keine neuen Fälle gemeldet, wenn man mal von einer Familie absieht, die aus Mallorca zurückkam und bei der ein Verdacht bestand. Wir haben hier also wahrscheinlich Glück gehabt­. In anderen Gegenden Deutschlands sieht es etwas anders aus. Doch auch auf Bundesebene scheinen wir verhältnismäßig gut wegzukommen. Die Zahl der schweren Verläufe oder gar der Todesfälle ist nicht deutlich höher als bei vielen anderen Krankheiten auch. Alles eine Folge guten Seuchenmanagements? Möglicherweise. Andere Länder jedenfalls waren schlimmer dran.

In unserer Praxis haben wir alle Vorgaben zum Infektionsschutz umgesetzt: die Zahl der Wartenden begrenzt, die Mindestabstände eingehalten, räumliche Trennungen gewährleistet, ein großes Schild an der Praxistür aufgehängt mit der Aufforderung zum Maskentragen usw. Unser Team arbeitet den größten Teil des Tages mit FFP2-Maske.

Und was machen die, die wir mit all diesen Maßnahmen eigentlich schützen wollen? Insbesondere die Alten und chronisch Kranken? Sie kommen ohne Mund-Nasen-Bedeckung in die Praxis gelatscht und wollen „nur mal schnell ...“.

Neulich hustete ein Mann ohne Gesichtsschutz im Wartebereich regelrecht seine Raucherlunge frei. Und wir stehen dann tagtäglich vor der Aufgabe, solche Menschen über das Gesundheitsrisiko für sich und andere aufzuklären. Diesen Typen jedenfalls habe ich rausgeschmissen. Ich bin es leid, durch eine FFP2-Maske zu argumentieren, die ja schon das normale Reden erschwert.

Oh je! Bin ich jetzt auch ein Jammerer? So jedenfalls hatte ich mir die sprechende Medizin nicht vorgestellt.