Die zweite Welle der Angst
Sprunghaft steigt seit Tagen die Zahl der mit SARS-CoV-2 Neuinfizierten an. Mit Grabesstimme werden uns die Zahlen von den Nachrichtensprechern vorgelesen. Auch der ARD-Brennpunkt, die Katastrophenviertelstunde nach den Nachrichten, wurde wieder aufgelegt. Dass dieser unter dem Deckmäntelchen der sachlichen Berichterstattung mehr Angst und Panik verbreitet als Information, ist eine Unterstellung meinerseits. Aber kein Zweifel, die prophezeite und lang vorhersehbare zweite Corona-Welle rollt. Um das zu leugnen, muss man schon ein besonders hartgesottener Anhänger einer Verschwörungstheorie sein. Und diese zweite Welle hat nun am letzten Wochenende meine Praxis erreicht.
Während ich im Frühjahr nur einen einzigen Corona-Fall in meiner eher ländlich und weitab von jedem Hotspot gelegenen Praxis betreut hatte, „erwischte“ es mich am Wochenende richtig. Ich hatte mich auf ein ruhiges und erholsames Wochenende gefreut, mit Ausschlafen, gut Kochen und Essen, ein wenig Sport und angesichts des trüben Wetters mit Erledigung privater Post und Abtragen einiger Papierstapel auf meinem Schreibtisch. Weit gefehlt!
Am Wochenende erinnert man sich auf dem Land gerne an die freundliche Hausärztin, die gleich in der Nähe wohnt und die man in einem dringenden Fall mal stören darf. Und von der man weiß, dass sie über einen der neuen Schnelltests verfügt. Die „Abstrichstationen“ sind schließlich am Wochenende geschlossen. Im Abstand von einigen Stunden tauchten also zwei Patienten auf, ein 20-Jähriger mit allen Zeichen eines banalen Atemwegsinfekts und dumpfen Kopfschmerzen, aber halt Reiserückkehrer aus einem Land mit Reisewarnung. Die Zweite, eine ältere Dame mit hohem Fieber, ebenfalls dumpfen Kopfschmerzen und trockenem Husten. Die Schnelltest-Abstriche von beiden fielen positiv aus!
Interessant war für mich die jeweilige Reaktion der beiden Erkrankten. Die ältere Dame, obwohl altersmäßig eindeutig zur Hochrisikogruppe gehörend, schien erleichtert zu sein, zu erfahren, welche Ursache ihr Fieber hatte. Ihr Ehemann notierte dankbar alle Therapiemaßnahmen und Verhaltensmaßregeln, die ich bis zum Erhalt des PCR-Ergebnisses anordnete. Lediglich die Notwendigkeit von Heparin-Spritzen erregte ihr Missfallen. Die Patientin hatte nun einen „Fahrplan“, an dem sie sich orientieren konnte und die Eheleute wussten, was bei einer Verschlechterung, z.B. Atemnot, zu tun ist.
Ganz anders die Reaktion des jungen Mannes, der keineswegs einer Risikogruppe zuzuordnen war. Als ich ihm das Abstrichergebnis mitteilte, rief er laut: „Quatsch, das kann nicht sein.“ Kurze Zeit später begann er am ganzen Körper zu schlottern, bewegte den Oberkörper in einem Beugeautomatismus hin und her und brach in Tränen aus. „Ich muß jetzt sterben!“, weinte er.
All mein gutes Zureden von „Sie gehören in keine Risikogruppe“ bis „Sie haben im Vergleich zu anderen die besten Aussichten, die Infektion gut zu überstehen“ und „viele in Ihrem Alter merken nicht mal etwas von der Infektion“ nutzte überhaupt nichts. Auch als ich, um bis in seine „Blase“ vorzudringen, das Ganze mit lauter Stimme wiederholte, blieb der Erfolg aus. Erst als ich ihm deutlich zurief: „Stimmt, Sie werden sterben ... wie wir alle ..., aber vermutlich erst so in 60 bis 80 Jahren“ konnte ich seine Aufmerksamkeit erringen. Und ihm das nötige Sedativum gegen seine Panikattacke in den Mund stecken. Nein, nein, er nahm es schon selbstständig, er kam mir in diesem Moment halt doch sehr kindlich vor.
Die anschließenden Telefonate mit diversen Stellen, um für die Kontaktpersonen eine am Sonntag geöffnete „Abstrichstelle“ zu finden, und die vorläufigen Meldungen ans Gesundheitsamt waren danach ein Klacks.
Immer wieder bin ich fasziniert von den subjektiven Eindrücken und Empfindungen von Menschen, die in keiner Relation zu ihrer objektiven Gefährdung stehen. Liegt das am bisher erlebten? An den im Leben angesammelten Resilienzfaktoren? An den sozialen Bindungen? Es werden zu diesem Thema angesichts des anflutenden Datenmaterials noch viele psychologische Doktorarbeiten nötig sein!